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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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freundlich, ob Jannis männliche Verwandte habe. »Nur Vater«, antwortete dieser mit Stimmbändern aus Gras. Für den Bruchteil einer Sekunde, der ihm vor allem in Erinnerung bleiben sollte, weil die Farbkombination so perfekt war – grau glänzende Augen, grau glänzender Bartwuchs, grau glänzender Mann, Ton in Ton –, ruhte das Kinn des Manns auf der Mähne des Pferds. Anschließend steckte er das Messer wieder ein. »Du kannst der Heiligen Jungfrau danken, dass wir deine Zunge nicht auf unser Brot schnetzeln. Deine Mutter, diese Hure, muss jemanden zum Reden haben. Aber wenn du irgendwem erzählst, dass du uns begegnet bist, werden wir nicht mehr so gutmütig sein. Wir haben euch während der Hungersnot zweiundvierzig geholfen. Wir haben euch während der Hungersnot dreiundvierzig geholfen. Wir haben euch sogar während der Hungersnot vierundvierzig geholfen. Trotzdem verratet ihr eure Landsleute an die Amerikaner. Heute Abend brauchst du nicht nach Hause zu gehen … Hurensöhne seid ihr – alle!« Die Männer rissen an ihren Zügeln. Jannis blieb alleine stehen, noch lange, nachdem sie mit Hufschlägen so hart wie Hagel verschwunden waren.
    Erst als die Sonne unterging, kehrte er zum Dorf zurück. Er versuchte sich einzureden, er sei sich nicht sicher, was die Widerstandskämpfer gesagt hatten. Kolópedo nannte sein Vater ihn nur, wenn er die Feder im Bett seines Sohnes quietschen hörte. Verloren, vielleicht ängstlich, sang er vor sich hin: »Ich heiße Jannakis Georgiadis und ich komme aus Áno Potamiá. Ich heiße Jannakis Georgiadis undichkomme aus Ánopotamiá. Ichheiße Jannakigiadis unkomm ausánopotamiá …« Bei jeder Wiederholung dieser simplen, aber veränderlichen Wahrheit glitten die Worte weiter ineinander, bis ihm nicht mehr klar war, ob das, was er da sagte, der Wahrheit entsprach, oder ob es überhaupt Worte waren, die aus seinem Mund kamen. »Icheißejannakijadisunikommausánopotamjá … Icheißjannijiadisundichauspotamjá … Jannijisausotamja …«
    An diesem Punkt angelangt dachte Jannis, dass die Soldaten ihn an Wölfe erinnerten, und gestand sich selbst ein: Sie hatten es ernst gemeint. Aber weil er müde und hungrig und gerade einmal sieben Jahre alt war, fiel es ihm schwer zu verstehen, warum der Bürgerkrieg, der im August geendet hatte, für diese Männer weiterging. Warum Van Fleet mit seinen Kaugummis und Zigaretten dem Land ein Leid antun wollte. Und warum das Dorf ein Bordell sein sollte. Er hatte kein Wasser mehr und das Brot und die Walnüsse, die seine Mutter ihm in den Kissenbezug gepackt hatte, waren aufgezehrt. Langsam verdrängte daher der Hunger die Angst und alles, was er über Marshall-Hilfe und Karamella wusste oder nicht wusste. Kaum war Áno Potamiá jedoch in Sichtweite gekommen, als seine Schritte erneut unzuverlässig wurden. Jetzt sah er den Rauch, der sich träge in den Himmel schlängelte. Wie Wurzeln, dachte er. Wie sieche, schwarze Wurzeln.
    Die Ziegen waren bockig, so dass er sie mit Schlägen und Zurufen antreiben musste. Als sie näher kamen, stieg ihm Brandgeruch in die Nase und er hörte jammernde Rufe. Auf dem Marktplatz saßen mehrere Frauen sich wiegend, klagend und schluchzend auf der Erde. Männer lagen, seltsam groß und seltsam still, mit den Köpfen in ihren Schößen. Frau Petridis hatte sogar zwei Köpfe in ihrem Schoß. Aus den Fenstern von Stefanopoulos’ kafeníon – wo die Dorfältesten unter der Leitung von Vater Lakis Vaterschaftsfragen, Grundstücksstreitigkeiten und andere Probleme lösten, die man zu wichtig fand, um sie einzelnen Dörflern zu überlassen – schlugen Flammen. »Als ich das sah, sparte ich meine Spucke«, erzählte Jannis viele Jahre später am Küchentisch von Familie Florinos in seinem erfundenen Eden. Er hätte genauso gut sagen können, er habe so still gestanden, dass man hätte meinen können, er wäre tot. Während einiger Minuten, wie Ewigkeiten lang, setzten bei ihm alle Reflexe aus. Es fragt sich, ob er noch atmete.
    Es war das zweite Mal, dass Jannis erzählte, was an einem schönen Januarabend 1950 in Áno Potamiá geschah. Zum ersten Mal hatte er die Geschichte nachts einer Frau ohne Nachnamen in einem Hotel in Thessaloniki erzählt, bevor er den Zug nach Belgrad nahm und mit vierundzwanzigstündiger Verspätung nach München, Hamburg und Kopenhagen weiterreiste – mit dem Reiseziel » Malmo, eden «, wie auf der Fahrkarte mit der schlechten Druckerschwärze stand. Er wollte ihr, »Anna oder Evita

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