Der letzte Grieche
auf den der Tausendkünstler so stolz gewesen war, dass er versucht hatte, ihn sich patentieren zu lassen. Die Hasenscharte wollte gerade rufen, als er ein Geräusch hörte. Hinter einem angesengten Holzstapel kauerte eines der Vembas-Kinder. Es schien der jüngste Sohn Pavlos zu sein. Sein Gesicht – Ruß, Rotz und Schrecken unordentlich verteilt – sagte mehr als alle Worte. Statt zur Bäckerei zurückzukehren, radelte er mit dem Jungen zum Hafen, wo sich tausende Menschen mit Koffern und Hühnerkäfigen drängten. Die einen kämpften um einen Platz auf einem der wenigen Schiffe, die anderen bekamen medizinische Hilfe bei Verbrennungen, Knochenbrüchen, Säbelhieben. Ein Geistlicher hielt ein Handtuch aufs Gesicht gepresst. Man hatte ihm den Bart abgeschnitten und die Nase fortgesäbelt. Vor den Lagerhallen auf dem hinteren Teil des Kais quollen in der Hitze die Leichen auf. Auf dem Pier warf die Hasenscharte ein Brett ins Wasser und sprang mit dem widerspenstigen Kind hinterher. Etwa eine Stunde benötigten sie, um zur Vittore Immanuele hinauszuschwimmen, die vor dem Pier vor Anker lag. Ringsum schaukelte alles Mögliche: Stoffbündel, zermatschte Wassermelonen, verkohlte Äste, ein Pferd … Und Menschen natürlich. Ganze oder Teile von ihnen, lebendig oder weniger lebendig. Ein italienischer Matrose zog den Jungen an Bord, die Hasenscharte selbst winkte abwehrend, wendete das Brett und bewegte sich strampelnd fort. Mit kleinen methodischen Wirbeln kehrte er zum Kai zurück.
Als es ihm gelungen war, sich durch die Menschenmenge zu drängen, wurde er zu einem Umweg gezwungen. Er hörte, dass die türkischen Truppen sich – selig von Raki und Raserei – dem Hafen näherten. Auf verlassenen Seitenstraßen mit quer stehenden Autos und Viehwagen gelangte er zur Bäckerei. Er nahm die Abkürzung über den Hinterhof des Metzgers, auf dem sonst immer abgezogene Lämmer und Schweine hingen. Jetzt klirrten die Fleischerhaken verlassen, die Hühner waren fort. Als er sich durch die Hintertür schob, war der rätselhafte Besucher gegangen. Despina erklärte, sie liebe zwar das Wasser, das gegen die Kaikanten der Stadt schlage, weigere sich jedoch, ihre Füße hinein zu setzen, wenn es koche. »Aha«, erwiderte ihr Sohn, während er das klettenhafte Kleidungsstück auszog. »Hier können wir jedenfalls nicht bleiben, bis es sich abgekühlt hat.« Er erzählte, dass die Türken dabei waren, alle christlichen Männer zu sammeln; es ging schon das Gerücht, dass sie auf Todesmärsche ins Landesinnere gezwungen werden sollten. Während er sich umzog, tat seine Mutter etwas, was sie nicht erklären konnte – weder jetzt noch später, nicht einmal sich selbst. Sie hob eine der kleinen Cognacflaschen herunter, die auf den Regalbrettern einstaubten, kippte den Inhalt weg und wrang Buluts Gewand gründlich aus. Als das Gefäß halb voll war, band sie es an eine Schnur und hängte sich diese um den Hals. Jetzt war sie bereit, jetzt hatte sie ein paar Flügelschläge bewahrt, jetzt konnten sie fliehen. »Wir nehmen den Landweg nach Norden«, war das einzige, was ihr Sohn sagte, als er ihre Habseligkeiten in einen Kelim legte, der auf dem Fahrrad festgezurrt wurde.
Gemeinsam marschierten sie in einer jener kilometerlangen Kolonnen aus größtenteils griechischen Familien und Tieren, die im September 1922 die Stadt verließen. Viele kamen um, andere sanken zu Boden und weigerten sich weiterzugehen. Doch es wurden auch Kinder geboren – unter anderem ein Mädchen, das von Doktor Isidor Semfiris auf der Grenze zu Griechenland zur Welt gebracht wurde und aus verschiedenen Gründen noch ein Jahr namenlos bleiben sollte. Zwei Wochen später trafen die Flüchtlinge in einem Heimatland ein, in das keiner von ihnen je zuvor seinen Fuß gesetzt hatte. »Geliebter Erol, Allah ismarladik «, murmelte Despina, als sie die Grenze überquerten. Mehrere Wochen später ließ sich ihr Sohn vor einem verriegelten Kaffeehaus in einem noch unbekannten Dorf auf einen Stuhl fallen. »Meine patrída ist das jedenfalls nicht«, verkündete er matt. Die Füße waren schwarz, seine Sandalen stanken wie die Pest. Die Mutter antwortete nicht. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Griechen, denen es gelungen war, den Weg nach Norden zu nehmen, auf Thrakien und Makedonien verteilt, und man hatte andere Sorgen als die Frage, wo man daheim war. Es gab staatliche Flüchtlingslager, aber Despina, die es satt hatte, dass man sich von außen in ihr Leben einmischte,
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