Der letzte Grieche
oder wie du mich nennen willst«, beichten. Ehrlich gesagt wollte er sie auch beeindrucken. Aber statt ihm zuzuhören, tastete die Frau, die er »Anita« getauft hatte, in der Dunkelheit nach seinem Handgelenk, betrachtete die radiumgrünen Zeiger und konstatierte kühl: »Halb drei. Entweder du bezahlst mich dafür, dass ich mir deine Lebensgeschichte anhöre, oder ich gehe. Tragödien sind nicht umsonst.« Als sie sich, sachlich und gründlich, zwischen den Beinen gewaschen hatte, suchte sie nach ihren Kleidern und bat ihn, ihr beim Zumachen des Reißverschlusses am Rücken zu helfen. »Danke, mein Engel«, fügte sie hinzu, als er ihr seine Fahrkarte zeigte. »Aber was mich betrifft, muss das Paradies noch ein bisschen warten.«
Fünf Minuten später lag Jannis allein in der Dunkelheit und stimmte ihren harten, aber aufrichtigen Worten zu. Er wusste, dass er an jenem Januarabend am liebsten gestorben wäre. Jetzt schwor er sich, nie wieder zu erklären, warum es seine Schuld war, dass die letzten Soldaten der Demokratischen Armee auf ihrem Weg nach Albanien im Winter 1950 sechs Männer im Dorf töteten. Es war die Rache dafür, dass jemand den Regierungstruppen geholfen hatte, als diese die letzten Waffenverstecke der Widerstandskämpfer gesucht – und gefunden – hatten. Und er würde auch nie wieder erklären, warum er seit jenem Tag nicht mehr Jannakis genannt wurde.
O, RÄTSELHAFTESTES DORF . Noch schläft unser Held. Aber nicht mehr lange. Es ist sechs Uhr morgens, und schon bald wird er etwas träumen, was ihn aufwachen lässt. Bis dahin nutzen wir die Gelegenheit, das Dorf zu beschreiben, in dem er sich aufhält. Willkommen in einer hochinteressanten Ortschaft in der südschwedischen Provinz. Willkommen in dem friedlichen Weiler am Rövarlövsee, besungen mit den Worten:
Auf einer Ebene öde wie Papier
O, rätselhaftestes Dorf, liegst du.
In einer Welt voller Schwindel und Geschmier
Warst mein Abgrund und Himmel, o du.
Balslöv, der Träume Traum, tapfer bleibe ich hier,
Obwohl meine Kindheit in dir ging perdu.
Das Dorf unterscheidet sich nur wenig von dem Ort, den Jannis kürzlich verlassen hat. Auch hier gibt es Träume, Leidenschaften und hohe Cholesterinwerte. Auch hier findet man Gefallen an samthäutigen Schauspielerinnen mit schönen Füßen, und selbst die Einwohnerzahl ist in etwa gleich: 125 Personen nebst Haustieren. Eins soll allerdings nicht unerwähnt bleiben: Alle Einwohner über acht Jahren können lesen und schreiben und niemand leidet Hunger. Als sich zwei Monate vor dem neuen Jahr Schnee auf die Ortschaft legte, wohnten dort unter anderem folgende Menschen:
Elvira Gotthart, Lehrerin und Fahrradfahrerin, von Kindern und Eltern »Fräulein Gott« genannt
Dorfhändler Sven Nelson mit Hornbrille und gewellten Haaren, weißem Kittel und geblümter Krawatte, ein netter Kerl; mitsamt Familie
Gerda Nyberg, Witwe des kürzlich verstorbenen Schrotthändlers († an Prostatakrebs), mit ihrem Sohn Ingemar, einem ausgebildeten Elektriker, der während der Krankheit seines Vaters nach Hause gezogen war
Tore Ollén, künstlerisch begabter Schmied mit feuchten Händen, sowie seine Gattin Siv (geborene Karlsson) und das Hausmädchen Ragna (geboren mit geistiger Behinderung)
Jan Ollén, im Allgemeinen »Dreck-Janne« genannt, Tores älterer Bruder und Bewohner der Villa Natur; Erfinder, Weltraumforscher und Dichter (siehe obiges Gedicht) sowie Dorforiginal
Ado von Reppe, elegant gekleideter Freiherr, erfahrener Chirurg (Spezialist für Ellbogen und Hüftgelenke) und Vorsitzender im Sportverein Balslöv, mit seiner Gattin Alice, vier Kindern und einem Schäferhund namens Rex
Agneta Thunell, die nach Problemen daheim in Tollarp zu Verwandten im Dorf gezogen ist und derzeit als Kindermädchen für Familie Florinos arbeitet (werktags zwischen zehn und fünf, abends und am Wochenende nach Vereinbarung)
Stig und Aga Svensson, die kinderlosen Verwandten des Kindermädchens
Familie Florinos im Haus Seeblick
sowie – in Kürze – ein ausländischer ehemaliger Student.
Die restlichen Dorfbewohner sind auch wichtig, aber nicht für diese Geschichte. Die meisten von ihnen sind übrigens genau wie in Áno Potamiá Bauern.
Damit enden die Ähnlichkeiten jedoch. Nach Balslöv führten keine Tierpfade oder Schotterpisten, sondern eine asphaltierte Landstraße und glänzende Eisenbahnschienen, auf welche die Kinder gern Fünföremünzen legten. Wer von der Seeseite ankommen wollte, konnte an
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