Der letzte Grieche
erklärte, sie ziehe ein hungriges Dasein in Selbständigkeit einem als gemästetes Stück Vieh im Pferch vor. Deshalb wanderten sie und ihr Sohn in die Berge hinauf, bis die Straße endete. Während sie ihre geschwollenen Glieder massierte, stellte sie fest: »Das wird unsere neue Heimat sein. Hier werden wir wohnen.« Die Hasenscharte suchte die letzten Datteln heraus. Eine Katze strich am Fahrrad vorbei. »Heimat und Heimat«, erwiderte er und warf einen klebrigen Kern auf das Tier – das buckelte und pfeilschnell verschwand. Es war sechs Uhr morgens. Sie befanden sich in Áno Potamiá.
NEUE LANDSLEUTE . Das Paar, das mit den Köpfen auf einem Kaffeehaustisch einschlief, war viel zu müde, um sich nach einer besseren Schlafstatt umzuschauen. Die Tischplatte war übrigens aus grünem Filz und sollte eine untergeordnete Rolle in der weiteren Familiengeschichte spielen. Aber das wissen wir schon, denn nun verlassen wir den Nebel der Mythen und betreten festen Boden. So folgt an dieser Stelle denn auch eine Liste über Dorfbewohner, die für die Flüchtlinge wichtig werden sollten:
Der Kaffeehausbesitzer Leonidas Stefanopoulos mit den goldenen Pupillen und den Furchen im Gesicht. Bald wird er aufschließen und ihnen ein Dach über dem Kopf anbieten.
Zwei Maurer. Vater und Sohn. Mit Nachnamen Petridis.
Lakis Doxiadis, der momentan in Thessaloniki Landwirtschaft studiert, nach Problemen mit der Universitätsverwaltung jedoch das Priesterseminar in Ioannina besuchen wird. Als er einige Jahre später ins Dorf zurückkehrt, blau gekleidet und bartgeschmückt, fällt es ihm zu, alle Schreiben vorzulesen, welche die Einwohner erhalten – Schriftstücke von Behörden, Proklamationen der Besatzungsmacht und diverser Armeen, die von sich behaupten, für ein demokratisches Griechenland zu kämpfen. Wenige ahnen, dass der Geheimdienst Vater Lakis während des Kriegs ausnutzen wird. Und auch danach. Als Gegenleistung dafür, dass seine revolutionäre Vergangenheit zu keiner Gefängnisstrafe führt, verspricht der Geistliche, gefährliche Elemente im Auge zu behalten. Im Laufe der Zeit zwingt dieses Versprechen manche seiner Landsleute, nach Tirana, Plowdiw und an ähnliche Orte zu fliehen.
Die uralte Frau Poulias, eine Schneiderin und darüber hinaus Engelmacherin, die sich in Kürze eines neugeborenen, noch namenlosen Mädchens annehmen wird. (Die Mutter ist eine junge Tänzerin, die ebenfalls aus Smyrna geflohen ist, der Vater bis auf weiteres unbekannt.) Niemand rechnet damit, dass die Engelmacherin nach drei missglückten Eingriffen mit Alraunen und fauligem Wasser, Gefühle für das Kind entwickeln wird. Übrigens: Sie ist zudem Wahrsagerin.
Eine Wahrsagerin. Zeitlos.
Der Weinhändler Tsoulas, Vorname Panajotis, der Retsina verkauft, so bitter wie Petroleum, und selbst gebrannten Ouzo, der in alte fix-Flaschen abgefüllt wird. Letzterer schmeckt nach Schweiß und Dampflokomotive. An der Wand hängt ein Foto des Königs. Im Laufe der Zeit wird die Familie fünf Kinder bekommen – die vier Töchter werden während der großen Hungersnot im Winter 1941–42 sterben, bei der sich das ganze Dorf in ein Grab verwandelt, der Sohn Thanassis dagegen wird überleben.
Der Lebensmittelhändler Spiros Papastratos, bárba Pippis genannt, der immer weniger sagt, je älter die Waren in seinen Regalen werden. Bei ihm gibt es Gewürze, Konserven unterschiedlicher Art, vor allem glitschige Anchovis und gezuckerte Pfirsichhälften, Mehl, Linsen, Bohnen, krümeliges chalvá und einiges, aber nicht viel mehr. Auf dem Fußboden stehen Fässer mit gepökeltem Fisch und Gläser mit eingelegtem Gemüse und Oliven. Sowie Säcke mit Walnüssen und Mandeln. Die Waren stehen im Übrigen unter der Aufsicht blasierter, schön schimmernder Fliegen.
Karamella, über die sich nur die Männer unterhalten. Mit Händen oder Hüften.
Karamellas neugeborene Tochter. Über die man erst sprechen wird, nachdem sie ein neues Zuhause bekommen hat und getauft worden ist.
Wer sein Kind in die Schule schicken will – und das sind nicht viele –, kann die sieben Kilometer nach Neochóri hinunter gehen oder mit dem Fahrrad fahren (fünfhundert Meter über dem Meeresspiegel). Ein Elternteil wird dies nach dem Bürgerkrieg ein halbes Jahr lang tun, danach jedoch nie wieder. Im Nachbardorf gibt es nicht nur eine Schulklasse für Kinder von 6 bis 14 Jahren, einen Gendarmen und einen Apotheker, dessen Sohn mit ungewöhnlich üppigem Haarwuchs gesegnet ist, sondern
Weitere Kostenlose Bücher