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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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er anfing, sich Dinge auszudenken. Anfangs handelte es sich um unbedeutende Details – ein Aussehen, eine Äußerung, eine Geste, die nirgendwohin führte. Die Eigenschaften, mit denen er ehemalige Freunde ab und zu ausgerüstet hatte, erleichterten es ihm, glaubwürdige Phantasien zu erschaffen. So beschrieb er etwa den Rost auf der Klinge, die er benutzt hatte, als er angefangen hatte, sich zu rasieren, so überzeugend, dass seine Mutter vor Entsetzen die Hände gegen die Ohren schlug. Er erzählte von einem Huhn ihres Nachbarn, das nur ein Bein hatte und sich mit ausgebreiteten Flügeln bewegte, um die Balance zu halten. Er zeichnete die Besuche in der Lagerhalle im Hafen nach, wo der Zirkus Arnold seine Requisiten verwahrte, die von einem schweigsamen Armenier mit einem Schnäuzer, dick wie zwei Hanteln, bewacht wurden, er schilderte den langen Schaft jener Pfeife, die er einen orientalischen Griechen hatte rauchen sehen, und er verweilte so ausgiebig bei zwei Schutzblechen, die Vembas rot, blau und weiß lackiert hatte, dass seine Mutter behauptete, genau zu wissen, welcher französische Soldat sie bestellt hatte.
    Mit der Zeit wurde er jedoch kühner. Und unvorsichtig. Eines Nachmittags, als es Vasso nicht gelingen wollte, ihren fiebernden Sohn zu trösten, setzte sich die Hasenscharte zu seiner Mutter. Während seine Frau von kleinen Lämmern und unberührten Wassern zu singen versuchte, erzählte er vom türkischen Schuster. Er erinnerte daran, wie Despina ihn einige Wochen vor der Flucht mit Sofias abgewetzten, aber gut gepflegten Schuhen zu ihm geschickt hatte. Onkel Feridun inspizierte diese und zeichnete mit Kreide Kreuze auf die Absätze. Die Hasenscharte wollte gerade fragen, wann er sie wieder abholen konnte, als ein neuer Kunde den Laden betrat. Der Mann stellte ein Paar Pantoffeln auf die Ladentheke, die wie kleine, gelbe Gondeln aussahen. Das Flechtwerk war an den Nähten gerissen. Er sagte etwas, was keiner verstand. Statt nachzufragen, legte der Schuster die Hände auf die Theke, lehnte sich vor und betrachtete erst den einen, dann den anderen Kunden. Die Augen wanderten hin und her wie die Ehrengardisten vor dem Dolmabahçe-Palast. Schließlich lachte er wie über einen Witz, den nur er verstand, schüttelte den Kopf und erklärte, die Hasenscharte könne am nächsten Abend wiederkommen. Erst da habe er entdeckt, dass der andere Kunde Gebetsrufer war. »Óch, óch …« ,stöhnte Despina und schlug sich vor die Brust. Doch statt sich über ein inneres Organ zu beklagen, ging sie mit einem Lachen, das wie Kielwasser glitzerte, in die Küche. Als sie die Mandeln mit Limonade hinuntergespült hatte, sagte sie: »Ich weiß deine Lügen zu schätzen, das musst du mir glauben. Man kann die Vergangenheit auch mit erfundenen Erinnerungen bewahren. Aber bei Muezzins ist Schluss. Über die sprechen wir nicht. Erzähl mir lieber vom Hafen.«
    Erst als Jannis auf der Welt war, interessierte sich seine Großmutter für etwas anderes als die Vergangenheit. Als sie den Säugling in Empfang nahm, den Vasso an einem schneidend kalten Januartag aus sich herauspresste, rief sie: »Mein Herz, mein Herz!« Die Nachgeburt folgte, nass und überrumpelnd, und unmittelbar darauf füllten sich die jungen Lungen mit Luft. Es ist unklar, ob ihr Ausruf sich auf das Kind oder eine spasmodische Faust bezog, die sich damals einem biblischen Alter näherte, aber als das Bündel aus Haut, Haaren und Blut etwas gewachsen war, bat sie die Hasenscharte nie wieder, ihr von früher zu erzählen. Außerdem machte sie keinen Unterschied zwischen ihrem Spatzen und dem Jungen, der mit der Zeit drahtig und stark werden und platte Füße bekommen sollte.
    Die drahtige Stärke kam dem Jungen nicht ungelegen. Denn der harte Winter, der auf den schönen Januarabend folgte, an dem Jannis, sieben Jahre alt, zehn Partisanen auf dem Weg nach Albanien begegnet war, wütete so teuflisch, dass Vater Lakis sich gezwungen sah, Kreuze, Nullen und andere Zeichen zu benutzen, um den Überblick über die Toten im Kirchenbuch nicht zu verlieren. Mit einem bulgarischen Militärpelzmantel in dem Verschlag sitzend, den er als Büro benutzte, fragte er sich, ob er jemals wieder Hochzeiten oder Taufen verzeichnen würde. Im Kaffeehaus trugen die Männer Schals, die sie bis zu den Ohren hochwickelten und Pulloverärmel, die bis über die Fingerknöchel gezogen wurden. Zwischen steifen Fingern qualmten feuchte Zigaretten. Wer bei bárba Pippis einkaufen ging,

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