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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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Fahrrad? In Áno Potamiá? Das wäre der letzte Tropfen. Im Übrigen kam es bloß selten vor. Eigentlich immer nur dann, wenn nicht einmal die Reisen in die verrußten, aber gut möblierten Nischen der Erinnerung ausreichten, um Despinas Sehnsucht zu stillen. Ihr Sohn schüttelte den Kopf, wenn er das am Stall lehnende Fahrrad entdeckte und ihm die Indizien ins Auge stachen, durch welche seine Mutter sich und ihre Eskapaden verriet: der tiefer gestellte Sattel, die Zweige, die in den Speichen hängen geblieben waren, der Lehm an den Rädern. Mit der Zeit erkannte er jedoch, das einzige, was sie wirklich beruhigte, das einzige, was sie in Zeit und Raum an Ort und Stelle hielt, waren Erinnerungen aus den Wochen vor der Flucht. Denn dann, erklärte sie, während sie sich mit dem ungezogenen Lächeln eines Schulmädchens die letzten Mandeln in den Mund stopfte, dann habe sie das Gefühl, das Leben trage weiterhin Früchte.
    Als Jannis geboren wurde, hatte die Hasenscharte zunächst andere Dinge im Kopf. Jedesmal, wenn ihn seine Mutter mit Fragen zu locken versuchte wie: »Erinnerst du dich an Onkel Feridun, der immer unsere Schuhe flickte?« Oder: »Wie war das eigentlich, als ihr den Amerikanern im Sporting Club das Fußballspielen beigebracht habt?« Oder: »Diese Straße, die vom Brunnen aus rechts abging, gleich hinter der Werkstatt, wie hieß die noch gleich? Nein, ich meine die Straße, die wir genommen haben, um den Soldaten aus dem Weg zu gehen.« Oder: »Ich würde alles dafür geben, noch einmal eine Tasse arabischen Mokka im Pôle Nord trinken zu dürfen – oder ein matzo mit Aprikosenmarmelade zu essen. Du nicht auch?« Jedesmal wenn das geschah, antwortete er: »Du hast doch gesagt, wir sind hier zu Hause. Dann hör endlich auf, ständig zu verreisen.«
    Trotzdem kam der Sohn Despina in den verwinkelten Gassen der Zeit manchmal entgegen. In der Regel, wenn seine Frau mit dem Kind eingeschlafen war, dessen schlaffer Mund einen erstaunten Buchstaben um ihre wunde Brustwarze formte. Dann zog er lautlos die Tür zu und schenkte sich ein Glas von Tsoulas’ Fusel ein. Während der Wein seinen Gaumen durchspülte, fragte er seine Mutter, was sie hören wolle. Meistens antwortete sie bloß: »Du weißt schon.« Anfangs erzählte er von Ausflügen und Entdeckungen und Spielkameraden, von Fußball spielenden Mädchen, und Freunden, an deren Namen er sich zwar nicht mehr erinnerte, die er jedoch mit den passenden Eigenschaften ausstattete. Später beschrieb er, was die Leute sagten, als die griechische Flotte in den Hafen einlief, was die Armenier, die den Verfolgungen entgangen waren, zu flüstern versuchten, wenn sie vor Trauer unvorsichtig wurden, oder was er getan hatte, als das Mehl während der Unruhen rationiert war und sie das Brot mit Borke backen mussten.
    Nur in seltenen Fällen, wenn ihn die Erinnerungen an Smyrna im Stich ließen, sprach er von seinem Vater. Dabei begegnete er der fernen Person, die ihm als ein Mann mit einem Strohhut in Erinnerung geblieben war, dessen schwarzes Band am Rand verblasst war, mit untadeliger Höflichkeit. In der Regel hob der Vater seinen Hut mit einem sachkundigen Ruck an der Krempe an und manchmal setzte er ihn seinem Sohn auf den Kopf, wo er herabsank wie ein nach Pomade duftendes Soufflé. Wenn sich die Hasenscharte bei diesen Erinnerungen aufhielt, stocherte Despina in ihren Zähnen und sagte nach einer Weile unweigerlich: »Genug der Worte über Herrn Talk.« Woraufhin er zu den Spielkameraden oder Großmutter Sofia zurückkehrte, die im Zwielicht der Erinnerung auf dem Sofa lag und sich mit einer Feder Luft zufächelte. Nur in Ausnahmefällen goss er sich noch etwas Fusel ein und erzählte von der Fahrt zum Hafen, bei der Vembas’ Junge quer auf der Fahrradstange gesessen hatte. Wenn er zu den verängstigten Menschen auf dem Kai gelangte, stöhnte Despina auf, als ginge in ihrem Inneren etwas kaputt: »Óch, óch, óch …«
    Schließlich versiegten die Erinnerungen jedoch. Vielleicht lag es daran, dass die Hasenscharte bei der Flucht jung gewesen war und keinen Vorteil darin gesehen hatte, weiterhin östlich der Zukunft zu leben. Vielleicht hatte es mit unserem Jannis zu tun, der in der Dunkelheit mit weit aufgesperrten Augen neben Vasso lag, die nach Rosinen und Rosmarin roch, und seinen Vater dazu brachte, sich schlagartig nach ihm zu sehnen wie der Anker nach dem Meeresgrund. Vielleicht war er es einfach leid, sich zu wiederholen. Tatsache ist jedenfalls, dass

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