Der letzte Grieche
sie in dieser schönen Sprache gesagt, die sie sprechen.«
Jetzt trocknete sich Agneta die Hände ab. Bevor sie die Stelle bei der Familie Florinos antrat, hatte sie sich die Haare färben und zu einem Bienenkorb frisieren lassen, über den sie insgeheim froh war, weil die Frisur ihr das Gefühl gab, ein neues Leben begonnen zu haben – nach Bengt und all den Problemen. Sie kontrollierte den Heuhaufen auf ihrem Kopf und setzte sich an den Tisch: »Ich kann übernehmen.« Sie nahm Fläschchen und Kind in umgekehrter Reihenfolge. »Woher willst du wissen, dass er Grieche ist?«, erkundigte sich Lily mit einem Lächeln, das dem Kindermädchen entging. Durchs Fenster bat sie Jannis mit einer Geste, hereinzukommen. Als der Kellergast eine Minute später das Kind in die Wange zwackte, antwortete Agneta: »Was sonst?«
An dieser Stelle muss ein Geheimnis verraten werden. Beim Anblick Agnetas hörte der Spatz in Jannis’ Brustkorb auf zu flattern. Zwar nur für ein paar Augenblicke, aber immerhin. Die Haare, die wie gesponnenes Licht waren, das eng anliegende Kleid und die helle Haut – alles erinnerte ihn an die Plakatfrau aus Thessaloniki. Was machte Anita Ekberg in Eden? Als der Vogel wieder anfing, mit den Flügeln zu schlagen, zwackte er das Kind deshalb fester in die Wange, als beabsichtigt. Es schrie auf und begann zu weinen. »Né, né«, war alles, was er herausbrachte.
DIE EISZEIT GEHT ZU ENDE. An den schneebedeckten Tagen bis Ostern kam es zu zahlreichen Begegnungen des Kellergasts mit dem Eis. Leider ist nur eine für die Nachwelt erhalten geblieben. Es handelt sich um einen unscharfen Schnappschuss, der mit Lilys Leica in dem braunen Futteral aufgenommen wurde. Die von Rauhreif überzogenen Kolben und dolchähnlichen Blätter im Vordergrund deuten darauf hin, dass die Aufnahme heimlich gemacht wurde, möglicherweise von einem Kind. In der Mitte des Fotos, fünfzig Meter draußen auf dem Eis, lässt sich ein Rücken erkennen. Das ist unser Mann. Das ist unser Grieche. Er hat die Schlittschuhe zusammengepresst und die Hände in die Hüften gestemmt. Vielleicht wartet er darauf, dass die Sonne aufgehen wird, aber vermutlich versucht er bloß, das Gleichgewicht zu halten. Obwohl seine Pose einen unweigerlich an etwas erinnert …
Es ist die einzige Dokumentation von Jannis’ Beziehung zum Eis, die wir in dem Schuhkarton gefunden haben, der uns zur Verfügung gestellt wurde. (Danke, Frau Doktor!) Dann aber kam ein stählern glänzender Tag Ende März, an dem die Natur gluckerte und klirrte. Wie üblich ging Balslövs zweiter Grieche morgens um kurz vor sieben zum See hinunter, fest entschlossen, sich des Vermächtnisses eines schwedischen Olympioniken würdig zu erweisen. Doch im Gegensatz zu früheren Gelegenheiten, bei denen er mit einigen kurzen, kraftvollen Schritten geradewegs in den Sonnenaufgang geglitten war, wurde er an diesem Morgen traurig. Wasser glitzerte grau zwischen Eisschollen. Die Schilfrohre, die bisher so steif wie Stiftstriche gewesen waren, ließen die Köpfe hängen. Jannis kehrte in den Keller zurück, wo er sich hinlegte und die Füße über die Bettkante baumeln ließ. Auf dem Fußboden bildeten sich Pfützen, die nach und nach die Form von Kontinenten annahmen. Einige Zeit später zog er die Schlittschuhe aus. Sie fielen. Plump und dumm. Die Eiszeit war vorbei.
DER ZAUBERER DES DURCHSICHTIGEN . An dieser Stelle müssen wir eine berechtigte Frage stellen: Wie kommt es, dass ein Grieche aus dem Norden Makedoniens von einem Eiskunstläufer und ausgebildeten Architekten aus Stockholm erfuhr, der mehrere olympische Medaillen gewann und an einem Apriltag 1938 in Potsdam an einer Blutvergiftung starb? Man würde annehmen, dass es nicht leicht ist, die Antwort in den Labyrinthen der Vergangenheit zu finden, doch diesmal geht es. Es lag an einer Großmutter. Und nicht an irgendeiner. Es lag an Despina Georgiadis.
Nach der Flucht aus Smyrna hatte sie getan, was sie konnte, um sich mit ihrer patrída auszusöhnen. Sie hatte lästige Zeichen eines Griechischs aussortiert, das in einem vielfältigen und komplizierten Kontakt mit dem Türkischen gestanden hatte, sie tat, als schmeckten die Oliven des Landes besser als die anatolischen, und wie jedermann hören konnte, hatte sie sich dialektale Ausdrücke angewöhnt. Für jemanden, der an der Ägäis aufgewachsen war, täglich eine Hand voll fremder Sprachen gehört hatte und nach wie vor gut gebackenes börek , armenische
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