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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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summte vor sich hin. In der Luft schwebte zum ersten Mal seit langem etwas Mildes, fast Verheißungsvolles. Nach einer Weile sah er den ältesten Sohn der Familie Florinos auf den Eisenbahngleisen näherkommen. In der Hand hielt er einen Ast, der über die Schwellen hüpfte und sprang. Seine Mütze hatte er in die Tasche gesteckt. Ab und zu holte er zu einem Tritt gegen einen der Steine zwischen den Schienen aus. Jannis betrachtete das Kind. Zu diesem Zeitpunkt war Anton sieben Jahre alt, schmächtig wie eine Weidenrute und Astronom. Er tauschte gerade den ersten Satz Zähne gegen den zweiten aus, wusste fast alles über die Milchstraße und konnte die Nationalhymne auswendig singen. (Momentan fand in Lilys Heimatstadt die Eishockey- WM statt. Wenn die Spieler mit dem Helm unter dem Arm wie Ritter aufgereiht standen und man über der fernen Spielfläche die Landesflagge hisste, wurde der Junge von Andacht übermannt.) Obwohl er noch nicht in die Schule ging, beherrschte er das Alphabet, drei von vier Grundrechenarten und konnte Schlittschuh laufen, was mehr war, als Jannis von sich hätte behaupten können. Außerdem war Anton Linkshänder und hatte Lachgrübchen, die denen des Gastarbeiters nicht unähnlich waren. Plattfüße hatte er allerdings nicht. Anton schlenderte den Bahndamm entlang, ein paar faustgroße Steine gerieten ins Rollen. Als er den Vollgriechen erblickte, der ihm zurief »Wie ist das Leben?«, ließ er den Ast fallen und holte etwas aus seiner Tasche. Er wirkte immer noch unzufrieden. Jannis fragte, was der Junge da habe. »Ach, nur einen Korken. Ich habe ihn von Onkel Nelson bekommen.« »Ach, gar nicht nur Korken.« Der Grieche griff nach seiner Jacke, die auf der Hecke lag. »Komm, wir gehen zu Ufer. Ich was erzähle.«
    Jannis summte weiter vor sich hin. Florinos’ Sohn erklärte, seine Eltern hätten ihn kürzlich gefragt, ob er sich vorstellen könne, umzuziehen, also nicht sofort, erst in einem Jahr. »Aus Eden?« Der Kellergast traute seinen Ohren nicht. Anton schüttelte den Kopf. »Nach Lund.« »Lund?« »Mm. Mama und Papa haben da gewohnt, bevor ich geboren wurde.« »Sicher?« Sie setzten sich auf den Schlitten am See. Zugvögel jagten über das spiegelblanke Wasser und wenn sie voreinander abdrehten, kräuselten ihre Flügelspitzen die Wasseroberfläche. Von Olléns zog der Geruch von Kohlrouladen herüber, in der Ferne hörte man eine Motorsäge.
    Der Korken hatte Jannis an den Kühlschrank daheim erinnert. Er hatte ihn von Elio Stefanopoulos übernommen, beschädigt nach dem Brand, aber noch funktionstüchtig, zuvor war er mit Stella und Efi am Fluss gewesen. Stellas Tiere stolzierten mit schlanken, kräftigen Beinen, vornehm wie Hofdamen, zwischen den Felsen, Maja hielt sich wie üblich etwas abseits. Zwischen den Bäumen auf der anderen Seite erblickte man zuweilen Karamella. Jannis begann, mit einem Stock Figuren in den Sand zu zeichnen. Die Freunde rieten. Schmetterling? Brille? BH ? »Nein, wartet, jetzt sehe ich, was das ist. Eine Schleife! Und das hier … O je, das müssen die Räder vom Karren der Apokalypse sein.« Efi strich sich, angeblich schaudernd, mit den Händen über die Arme. Der Eisverkäufer hatte wenige Wochen zuvor das Zeitliche gesegnet. Weil niemand wusste, woran er abgesehen vom Jüngsten Tag geglaubt hatte, beerdigte man ihn nicht auf dem Friedhof, sondern in einem Wäldchen oberhalb von Karamellas Haus, in dem sonst nur ungetaufte Kinder ihre letzte Ruhestätte fanden. Da der Eisverkäufer nie etwas gesagt hatte, konnte man laut Stella nicht einmal sicher sein, dass er Grieche gewesen war. Jannis tippte auf Bulgarien, während Efi Georgien vermutete. Stella selbst meinte, er sei Armenier gewesen. Dann berichtete sie von dem Kühlschrank im Kaffeehaus. Er war groß und kompakt und sah aus wie ein Geldschrank aus Holz. Ganz unten in ihm gab es eine Schublade aus Blei. Dort deponierte ihr Vater das Eis, das die Apokalypse lieferte, Blöcke so schwer wie Goldbarren und genauso wertvoll. An der einen Seite saß eine Klinke, auch sie aus Holz. Wenn man sie herabdrückte, schwang die Vorderseite auf und der Öffnung entströmte weißer Rauch.
    »Wie vom Nordpol«, erläuterte Jannis. »Vom Nordpol?« Anton wusste nicht, was er denken sollte. »Ach was, ich nur bin phantastisch. Außenland, wir können sagen.« Der Junge wusste nach wie vor nicht, was er sagen sollte. Jannis erklärte, dass der Schrank inzwischen an dem Mandelbaum daheim stand und Trockenfutter

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