Der letzte Grieche
üblich reißt der ernste Davit Abderian am Eingang die Eintrittskarten ab. Der alte Schwertschlucker, der sich wie unzählige andere Armenier die Zunge abgebissen hat, verneigt sich mit stummer Würde. Als wir unsere Plätze eingenommen haben, warten wir auf die kurzbeinigen Lachnummern des Harlekins und Columbinas krummen Tanz. Doch sobald das Licht gelöscht worden ist und die Trommelwirbel verstummt sind, überrascht man uns mit einem neuen Programm! Zunächst heißt uns in einer Wolke aus Schnee Fräulein Karmen Rellas willkommen. Enthusiastisch erzählt diese bezaubernde Muse, ein herrliches türkisches Bonbon, von den Heldentaten, deren Zeuge wir gleich werden dürfen. Und wahrere Worte sind selten gesprochen worden. Denn als Fräulein Rellas die Vorhänge weggezogen hat, wirbelt Olga Nikolajewa mit Toma Burliuk durch den Raum, als wären sie zusammengenäht – ein Bild für den Frieden, der kürzlich in Versailles geschlossen wurde. Danach entführen uns fünf Herren aus Italien zu einigen Höhepunkten in der Geschichte der Menschheit: die Verbrüderung Russlands und Japans in Portsmouth 1905, der Friedensschluss in San Stefano dreißig Jahre zuvor, ja, wir dürfen sogar dem Handschlag des Zaren und des Sultans 1856 in Paris zuschauen. Anschließend führt Olga Nikolajewa einen Schwanengesang auf, der einer Romanowa würdig gewesen wäre – als Hommage an das Reich an den Ufern der Wolga. Doch die Sensation des Abends ist Gillis Grafstrom. Von Scheinwerfern begleitet dreht er Pirouetten im Nichts, entfaltet Girlanden, die schöner sind als die Blüten der Phantasie und beendet seine Darbietung mit einer Ewigkeitsbewegung von solcher Eleganz, dass sich das Publikum fragt: Ist dieser Schwede mit Engeln verwandt? Verehrte Leser, er ist der Zauberer des Durchsichtigen!«
So, so. Und was sah Despina, wenn sie in den Tunnel der verschwundenen Jahre blickte? Sie sah einen Bühnenboden mit kräftigem Seegras, in dem sich die rollschuhgetragenen Seejungfern verfingen und verloren gingen, ehe sie als Friedenstauben wiedergeboren wurden. Sie sah eine Freundin tapfer lächeln trotz des weißen Konfettis, das ihr der Ventilator ins Gesicht blies, den Arnolds armenisches Faktotum bediente. Und sie sah einen schwedischen Olympioniken mit Fertigkeiten brillieren, die kaum menschenmöglich schienen. Bekleidet mit einem Trikot und auf Rollschuhen mit hohen Schäften aus ungarischem Leder vollführte dieser Verwandte der Seraphim auf einer zehn Zentimeter dicken Glasscheibe, die in zwei Metern Höhe montiert war und mit Scheinwerfern von unten beleuchtet wurde, ein Kunststück nach dem anderen. Vor allem bei der »Ewigkeitsbewegung« verschlug es den Zuschauern den Atem. Die Hände in die Taille gestemmt, so dass seine Arme Schlaufen bildeten, drehte er sich wie ein Derwisch des Nordens, schneller, immer schneller im Kreis, bis er sich in ein makellos gedrechseltes Stück Mensch verwandelte. »Er hat sich noch eine Ewigkeit weitergedreht. Dein Vater meinte, das Eis trage ihn wie die Luft einen Engel.« Despina seufzte. »Im Vergleich zu Killi sind die Cherubim in diesem Kaff hier Invaliden.« Sie dachte an ihren toten Sohn und fragte sich, wie die Ewigkeit ein Ende hatte finden können. Panajía , das Leben bestand aus Verlusten. Als der Kranke sie bat, weiterzusprechen, schüttelte sie still den Kopf und murmelte etwas, was ihr Enkel erst viele Jahre später verstehen sollte: »Warum muss ein Ereignis beendet sein, damit es uns möglich ist, davon zu erzählen? Ich frage ja nur. Warum?«
»Ich will auch kreiseln«, schnorchelte Jannis. Aus der Küche rief Vasso: »Hör auf, ihm Ammenmärchen zu erzählen. Hörst du nicht, dass er phantasiert?« »Jetzt geht das wieder los«, seufzte die Großmutter mit der Hand auf der Stirn des Jungen. Dann senkte sie die Stimme: »Ich werde dir mal was sagen: Das Eis geht nirgendwo hin.« Aber als Jannis eine Woche später zum Fluss hinunter kam, war Tauwetter und die Ziegen verstanden nicht, warum er weinte.
Das soll eine Lektion in Sachen Glück sein? Angesichts des Fotos in dem Schuhkarton sieht es ganz danach aus.
ALWAYS BE MINE . So wohlgeordnet einem die Vergangenheit im Rückblick auch erscheinen mag, enthalten die Erinnerungen an sie immer auch andere Erinnerungen. Hier folgt ein Beispiel dafür, was passiert, wenn diese ineinander fließen und die Zeitformen sich vermischen.
Kurz vor Ostern harkte Jannis in der Einfahrt Laub. Es war vermodert und schwer zu entfernen. Er
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