Der letzte Grieche
musste seine Einkäufe unter der Matratze auftauen und auf Tsoulas Regalen waren die Flaschen von einer Frostschicht bedeckt.
Wenn die Dorfbewohner erwachten, waren ihre Körper aus Porzellan, über den Mündern schwebten harte Miniaturwolken. Im Gegensatz zu anderen Häusern, in denen man gemeinsam in einem großen Bett lag oder so viele und so dicke Mäntel besaß, dass es sich lohnte, im eigenen Bett liegen zu bleiben, teilte man sich bei Familie Georgiadis paarweise auf. Nach dem Tod der Hasenscharte weigerte sich Vasso jedoch, ihren Sohn bei der Schwiegermutter schlafen zu lassen. Ihre Haare waren immer noch schmutzig blond, ihre Augen aber wurden klein und stechend, als sie verkündete: »Er schreit vielleicht, aber er ist aus mir gekommen. Du kannst Maja nehmen, wenn du willst.« So kam es, dass Despina den Winter 1949–50 in Gesellschaft der neuen Ziege der Familie verbrachte. Auf die feuchte Schnauze, die sie morgens weckte, hätte sie wohl ebenso verzichten können, wie auf den herzzerreißenden Gestank, der erst Stunden später aus den Kleidern wich. Aber das Zicklein gab ihr ein Gefühl, gebraucht zu werden, wie es ihr ansonsten nur Jannis zu schenken vermochte, und wenn sie das Tier in einen Kelim wickelte, wurden die Laken nicht schmutzig. Ansonsten nannte sie den Jungen inzwischen gidáki mou.
Jannis hatte nichts dagegen, zu Großmutters »Zicklein« ernannt zu werden. Er wusste ja, dass Maja mit der Zeit zum wertvollsten Besitz der Familie werden würde. Wenn er sie an sich presste, wurde ihm warm, und an den kalten, klaren Tagen, an denen sie am Fluss entlanggingen und ihnen nichts anderes als Zeit zur Verfügung stand, trippelte sie vornehm zwischen den Steinen – Potamiás’ Primadonna. Mehr konnte kein Mensch von einem Huftier verlangen.
Mitte Februar bekam er allerdings eine Lungenentzündung. Das Fieber stieg, der Hals brannte, und so musste seine Großmutter die Tiere hüten. Als sie zum Fluss kam, war dieser zugefroren. Maja lief auf das Eis hinaus, aber die Steine waren seifenglatt, die Oberfläche hatte sich in Glas verwandelt. Die Ziege stieß panische Laute aus und trat eine Wolke aus Sonnenlicht und Splittern hoch. Als Despina zurückkehrte, erzählte sie von Majas Panik, die damit geendet hatte, dass die Ziege sich auf das Eis gelegt hatte. »Plötzlich bildete sie sich offenbar ein zu sterben. Eine wahre Eisfürstin. Du armes Ding, es war ein bisschen kalt für einen Schwanengesang, nicht wahr?« Sie gab dem Tier einen Brotkanten, den es zwischen haarigen Kiefern zermahlte. »Bleib in Zukunft an Land. Du bist doch keine Olga Nikolajewa.« »Olga wer?« Jannis hatte einen Waschlappen auf der Stirn, den Despina jetzt durch ihre Hand ersetzte. » Óch , der reinste Topfdeckel.« Sie befeuchtete den Lappen. »Nur eine von Arnolds Nummern, gidáki mou . Aber der Schwede war eleganter. Er hätte Maja aufgefordert wie ein echter Prinz.« »Der Schwede?« »Killi Krafstromm.«
Als Despina den Waschlappen zurücklegte, erzählte sie, wie die Hasenscharte sie nach dem Krieg überredet hatte, mit ihm in den Zirkus Arnold zu gehen. Schon als sie noch ein Kind war, hatte die Kompanie Gastspiele in ihrer Heimatstadt gegeben, aber nach Gallipoli und Verdun wirkten die Kunststücke altmodisch. Kein Mensch wollte noch Frauen mit Klumpfüßen und behaarten Gesichtern oder Szenen aus der Commedia del’arte sehen, die von Winzlingen aufgeführt wurden. Arnold Grigoriwitsch Arnold erkannte, dass seine Tage gezählt waren und entließ die bärtige Dame und die blödsinnigen Liliputaner. Stattdessen engagierte er zwei Tänzer aus dem Ballet in Feodossija und einen Hungerkünstler namens Heinz aus Bremerhaven. Gleichwohl bedurfte es noch eines Geistesblitzes, bis das Publikum in Massen herbeiströmte. Nach einem Besuch in Davos kehrte er mit fünf Italienern und einem Schweden zurück, allesamt mit Trikots und seltsamen Schuhen bekleidet. Fortan konnten sich die Einwohner entlang der Küste und später auch oben am Schwarzen Meer auf etwas freuen, was sie bestenfalls vom Hörensagen kannten: Gesang und Tanz auf dem Eis. Oder besser gesagt: Gesang und Tanz auf etwas, das aussah wie Eis.
Mit freundlicher Unterstützung eines Archivars der Nationalbibliothek in Istanbul ist es uns gelungen, einen Augenzeugenbericht aufzutreiben. Unter der merkwürdigen Schlagzeile FRIEDEN AUF DEM EIS verkündet eine von Smyrnas griechischen Zeitungen: »Zur Zeit gastiert Zirkus Arnold wieder einmal in unserer Stadt. Wie
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