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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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Rosenblätter-Marmelade und von einem shochet vorbereitetes Dillfleisch zu schätzen wusste, für jemanden, der im Alter von fünf Jahren Fahrrad gefahren war, mit sieben Fußball mit den Jungs aus dem Viertel gespielt hatte und mit vierzehn boule mit den Soldaten auf der Hafenpromenade, für jemanden, der sich wie ein Leibgardist am französischen Hof gekleidet und Männer veranlasst hatte, Brote zu kaufen, die sie gar nicht brauchten, und zwei Jahre später eine weiß gekalkte Mauer am Steißbein gespürt hatte, während ihr ein tauber Mechaniker irre Worte ins Ohr flüsterte, für diesen Menschen war es gleichwohl nicht leicht, in Áno Potamiá zurechtzukommen. Das Heimatland oben in den Bergen war alles, was das neue Ausland unten am Meer nie gewesen war.
    In den Jahren nach ihrem Frühstück mit dem Kaffeehausbesitzer war Despina oft zu sehen. Mal bot sie den Bauern der näheren Umgebung die Dienste ihres Sohnes bei der Ernte an, mal entfernte sie Steine von dem kleinen Feld, das sie für den Eigenbedarf bepflanzten. Aber nur wenn der Frühlingswind den Mandelbaum gleichsam rosa wispern ließ, empfand sie ungetrübte Freude: Für ein paar Tage kam es ihr dann vor, als wäre Smyrna mitten im schmutzigen Heute ausgeschlagen. Im Laufe der Jahre verschwand sie dennoch aus dem Alltag. Wenn ihr Sohn mit der Hasenscharte gefragt wurde, wo seine Mutter sei, zuckte er mit den Schultern. »Zu Hause, natürlich. Wo sonst?« Was stimmte und doch nicht stimmte, denn Despina zog sich nach und nach aus der Welt zurück, zu der sie laut der letzten Volkszählung vor dem Krieg immer noch gehörte. Zu den anderen Frauen im Dorf hatte sie nur so viel Kontakt, wie die Konventionen es verlangten. »Diese schwarz gekleidete Miliz? Steht es schon so schlimm um mich?« Wenn etwas gekauft oder erledigt werden sollte, schickte sie ihren Sohn und später ihren Enkel. Außerdem mied sie alle Gottesdienste außer jenem zu Jahresanfang, bei dem der Priester das Kreuz in den Potamiá warf. Stattdessen verbrachte sie ihre Tage im Haus. Ihre Behausung bestand zwar nur aus vier Wänden und einer Reihe von Erinnerungen, die eine schiefer als die andere, aber im Gegensatz zu Stroh und Lehm, die sie vor den Niederschlägen schützten, schenkten die Früchte des Gedächtnisses ihr eine wundersame Freiheit in ungeahnten Gefilden. Na schön, nicht ganz so blumig ausgedrückt: Mit einer Schale Mandeln auf dem Schoß reiste Despina in der Vergangenheit.
    Während sie die trockene Masse im Mund bearbeitete, fragte sie sich, was Áno Potamiá zu bieten hatte, das nicht von ihrer Heimatstadt übertroffen wurde, ob nun niedergebrannt oder nicht. Dort gab es auf den Bürgersteigen Fahrzeuge und Figuren, die die Nachbarkinder gezeichnet hatten. Dort gab es Pflaumen so weich wie Lippen, Feigen süßer als Zucker aus Aleppo, Granatäpfel, die den Speichel so rot färbten, dass er aussah wie Blut, wenn man die Stücke aus den Trennwänden ausspuckte. Dort gab es türkische Lieder und das Wasser entlang der Promenade, das wie Bronze glänzte, die gackernden Hühner des Nachbarn und die schrillenden Hupen der Automobile, wenn sie vor Xenopoulos’ riesigem Kaufhaus parkten. Dort gab es schnelle Mücken in der Nacht und träge Fliegen am Tag, dort gab es Apparate mit zierlichen Kurbeln, Telefone genannt, und Gebetsrufer mit Fez und Vollbärten, hinter denen sich bisweilen bekannte Züge verbargen. Wenn das abenteuerliche Herz, über das sich ihre Eltern einst beklagt hatten, Despina in die weite Welt hinausgeführt hatte, so führte es sie nun immer weiter nach innen. 1928, 1935, 1944 … Die Jahre vergingen und eine Reihe bleigrauer Ereignisse trafen ein, aber mit der Zeit wurde sie Sofia immer ähnlicher. Die Außenwelt ging sie nichts mehr an. Sie hatte längst den Kampf gegen die Schmerzen in Hüften und Fußgelenken verloren und saß lieber mit einer Decke auf den Beinen. Im Unterschied zu ihrer Mutter, die immer jünger geworden war, blieb sie jedoch fünfundvierzig Jahre alt. Was bedeutete, dass sich ihre Gedanken ungehindert in einer eingefrorenen Welt bewegten. Genauer gesagt in der Hafenstadt vor den Septembertagen 1922. Womit wir bei ihrer zweiten Lektion in Sachen Glück wären.
    Gelegentlich schworen Dorfbewohner, die spät unterwegs waren, sie hätten eine jiajiá vorbeifahren gesehen – stattlich, stumm, schemenhaft –, auf einem Fahrrad in der Nähe des Flusses, aber über Berichte dieser Art wurde im Kaffeehaus bloß gelacht. Eine Frau auf einem

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