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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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Murmeln, das an Agnetas Ohr drang, als sie kurz nach Mitternacht eine Hand auf die Klinke der Kellertür gelegt hatte. Sie hatte Mantel und Schal an und schob gerade ihre Füße in die Stiefel. Als Manolis mit gelöster Fliege und den Fingern im Portemonnaie zurückkehrte, wurde ihr klar, dass sie die Zeilen kannte, die aus dem Keller aufstiegen wie sanfter, sanfter Rauch:
     
    Hold me, my darling, and say
    That you always be mine –
    UMGEGRABENE ERDE . Einige Tage später wollte Lily den Gemüsegarten umgraben. Jannis begleitete sie in die Garage, wo sie Spaten und Arbeitshandschuhe holten. Die Osterwoche hatte begonnen, und es herrschte milderes Wetter als seit vielen Jahren um diese Zeit. Den Winter über hatte das Stück Land unter einer Abdeckplane gelegen, die mit Steinen von den Eisenbahngleisen beschwert gewesen war. Jannis hatte sich nach dem Grund erkundigt. Nun erzählte ihm die Frau des Doktors, die Erde müsse geschützt werden. »Keiner kann über seinen eigenen Schatten springen.« »Schatten, kiría ?« Sie erklärte ihm, dass dies nur eine Redensart war, die besagte, dass sie sich nicht verändert hatte: Lieber auf Nummer sicher gehen mit Abdeckplane als ein ruinierter Gemüsegarten ohne. Jannis entfernte die Steine und zog außerdem die u-förmigen Krampen heraus, die in den Boden gesteckt waren. An zwei Stellen hatte man Holzstäbe mit einer Art Kriegsbemalung benutzt. »Was das hier?« »Krocketstäbe. Wenn du … Nein, Krocket. Mach es so. Genau. Dann fasse ich hier an.« Gemeinsam falteten sie das Segeltuch zwei – drei – vier Mal. Alles, was die Frau des Doktors machte, war durchdacht. Sollte der Himmel eines Tages eingepackt werden müssen, ahnte er schon, wer sich der Aufgabe annehmen würde, ohne dass der Himmel Schaden nahm. Ihre Frisur saß perfekt und wenn er einmal näher bei ihr stand als gewöhnlich, wie jetzt, nahm er wahr, wie gut sie roch. Wie Minze.
    Als Lily ins Haus zurückgekehrt war, sann Jannis über das braune Erdreich nach. Die Plane hatte so gründlich jede Feuchtigkeit ferngehalten, dass nicht einmal der Morast der letzten Wochen Wirkung gezeigt hatte. Kein Felsgrund, nur harter Humus. Hier und da sah man erfrorene Pflanzen mit papierartigen Blättern. Als er seinen Spaten in das Erdreich trieb, stieß er auf Widerstand: In fünfzehn Zentimeter Tiefe war der Boden noch gefroren. Diese paar Quadratmeter, dachte er und drückte mit dem Fuß. Diese Quadratmeter würden ausreichen, um eine Familie zu ernähren. Oder einen Vater zu beerdigen.
    Mittlerweile lag der Abend mit den siechen Wurzeln so weit zurück, dass es sich nur noch anfühlte, als wäre es gestern gewesen und nicht eben erst. Da waren die Frauen, die mit den Köpfen der Männer im Schoß auf dem Marktplatz saßen. Da war Stefanopoulos, der von Fenster zu Fenster lief und in einer Sprache, die niemand verstand, abwechselnd brüllte und jammerte. Da waren die Flammen, die an dem Gebäude leckten und das Wasser in den Eimern, die Stefanopoulos trug – bis ein Balken herabfiel und er umkam. Da war die Ohnmacht, die wie Watte in der Luft lag und dazu führte, dass sich alle gleichsam mit Verzögerung bewegten. Da war Frau Petridis, die ihren Mann und ihren Sohn verloren hatte und sich von diesem Schlag nie mehr erholen sollte. Und da war Vater Lakis, der, eine Handfläche so groß wie ein Spatenblatt gegen die Stirn gepresst, an einem der Kaffeehaustische saß. »Was habe ich getan? O, was habe ich nur getan?« Die ihn hörten, nahmen an, dass er mit Gott sprach. Da war Vasso, die nicht so gut darin sein mochte, eine Mutter zu sein, aber dennoch die einzige blieb, die er hatte, und auch sie saß mit einem Kopf im Schoß – obgleich etwas weiter weg, kurz vor dem Dorfende. Da war sein Vater, dessen Kopf sie hielt und dem man erst in den Arm und dann in die Brust geschossen hatte. Und da war Jannis, der feststellen musste, dass er sich nicht bewegen konnte, als seine Mutter ihm zuwinkte. Die Zunge schrumpfte, die Augen erstarrten. Da waren die längsten Minuten in der achtjährigen Geschichte der Menschheit.
    Es ist sinnlos, alle Informationen zu wiederholen, die der geneigte Leser im zwölften Band der Enzyklopädie finden kann. Es reicht festzuhalten, dass Jannis’ Vater den Marktplatz erst erreicht hatte, als bereits eine Fackel durch das Fenster des Kaffeehauses geworfen und vier Dorfbewohner getötet worden waren. Weil er aus einer Richtung kam, mit der niemand gerechnet hatte, wurde er zunächst nicht

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