Der letzte Grieche
Menschen in Schweden näher zu kommen. Er dachte an das Kindermädchen mit den schönen Haaren und den blassen Augen, das nicht begriffen hatte, dass er einen Witz machen wollte. Er dachte an die Söhne der Florinos, denen es manchmal peinlich zu sein schien, was er in gebrochenem Schwedisch zu erklären versuchte. Aber hier und jetzt, auf Grundwasserniveau, lösten sich die Grenzen auf. Balslöv hätte ebenso gut Áno Potamiá heißen können.
Leise, anfangs kaum hörbar, drangen Laute eher aus seiner Kehle als aus seinem Mund, eher aus der Lunge als aus seiner Kehle, eher aus dem Zwerchfell als aus seiner Lunge. Verloren in den Worten sang Jannis weiter, obwohl er nicht wusste, was sie bedeuteten. Ein paar Minuten später bewegte er sich durch die Wand (ein Ding der Unmöglichkeit: Messungen zufolge besteht sie aus dreißig Zentimetern Beton) und löste sich in der Dunkelheit des Heizungskellers auf. Wieder einige Minuten später vermochte er nicht mehr zu sagen, was außen und was innen war. Und schon bald war ihm, als befände er sich bei der Ölheizung, die sich in seinem Inneren befand.
Bésame,
Bésame mucho …
In den letzten Minuten vor dem Einschlafen schweiften seine Gedanken in viele unvereinbare Richtungen. Es folgt eine Auswahl dieser Überlegungen ohne Magnet:
»Harke« … Was für ein schönes Wort. Es klingt wie der Name eines Mädchens. Ich glaube, es hat Zöpfe. Ja, es hat mit Sicherheit Zöpfe. Und kommt aus Holland.
Mich ändern? Warum sollte ich mich ändern? Ich bin doch ohnehin nie nur ich selbst. Ich bin jemand, der mit einem Jungen auf einem Schlitten sitzt. Ich bin jemand, der mit dem Gesicht auf dem Zwerchfell eines anderen Menschen liegt. Ich bin jemand, der Majas Maul zusammenklemmt, damit sie das Medikament gegen Würmer schluckt. Ich bin sogar jemand, der sich in einer Bibliothek blamiert. Ich bin nicht nur ich selbst, sondern auch, wie alle anderen mich erleben. Ein Tintenfisch!
Ich würde gerne wissen, wer sich auf der Welt an mich erinnert. Ich frage mich, ob viele darunter sind, die ich nicht kenne. Ob sie sich an mich erinnern oder nicht erinnern wollen. Und was sie tun, wenn sie sich nicht an mich erinnern wollen. Ich selbst will mich an alle erinnern. Es gibt keinen Menschen, an den ich mich nicht erinnern wollen würde. Nicht einmal die Partisanen.
Vielleicht doch die Partisanen.
Für mich sind nicht die Augen eines Menschen der Mittelpunkt. Auch nicht der Mund. Nicht einmal der Nabel, selbst wenn er so groß ist wie die Saugnäpfe eines Tintenfischs. Für mich ist es das Zwerchfell. Das Zwerchfell ist der Himmel an einem Menschen. Der Meinung bin ich gewesen, seit ich Efis damals zittern sah wie hautfarbenes Wasser. Ich wollte es berühren, ganz leicht, und anschließend die Ringe betrachten, während ich den Geschmack auf meinen Lippen gekostet hätte. Danach wollte ich die drei Worte sagen. Aber stattdessen habe ich etwas anderes gesagt. Etwas, was ich nicht begreife.
Nach der Pokerrunde kam mir alles hoffnungslos vor – bis Kostas mir Geld lieh und ich einen neuen Stall bauen konnte. Wir standen in einer langen Reihe, eine Armlänge lag zwischen jedem von uns. Christos, Petros und Elio waren dabei. Und Kostas natürlich. Hat Efi auch mitgemacht? Nein, sie wollte ja nach Schweden. Aber Großmutter und die Bulgaren. Und ich selbst natürlich. Während Großmutter auf einem Stuhl saß und den Takt angab, nahm Christos einen Stein von dem Stapel auf der Ladefläche, schwenkte ihn hin und her und hievte ihn nach ein paar Worten über die heilige Jungfrau zu Petros, der ihn in Empfang nahm und ohne eine Bemerkung über die heilige Jungfrau an Stella weiterreichte, die etwas über den König sagte und ihn zu Kostas weiter hievte, der etwas über deutsche Tanten sagte und ihn zu Vasil weiter schwang, der etwas sagte, was keiner verstand und ihn zu Bogdan hievte, der auch etwas sagte, was keiner verstand, und ihn anschließend zu mir hievte, der ihn absetzte. So machten wir weiter – eine lange Reihe von Menschen, einen ganzen Vormittag lang – bis die Ladefläche leer war. Ich glaube nicht, dass ich jemals glücklicher gewesen bin als an dem Tag.
Nein, ich bin niemals glücklicher gewesen als an dem Tag.
Nach diesen Gedanken musste er seiner Müdigkeit Tribut zollen. In den letzten Minuten murmelte Jannis nur noch. Über diese Zeit gibt es nichts zu berichten. Bloß den Verdacht, dass er weniger Jannis und mehr Welt war als eine halbe Stunde zuvor – sowie das
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