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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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auf dem Treppengeländer) : Erde an obere Etage: Es gibt Essen. (Kehrt in die Küche zurück. Stille senkt sich herab.)
    HALBGRIECHE ( sieht den VOLLGRIECHEN nachdenklich an ): Du, das, was du nicht kannst … (Kunstpause.) Ich könnte es dir beibringen. Es ist kinderleicht.
    KURZE ABHANDLUNG ÜBER DIE ZEIT N. A. (NACH ÁNO POTAMIÁ) . Als Jannis einsah, dass die Schlittschuhe jetzt für längere Zeit an ihrem Haken in der Garage hängen bleiben würden, schlüpfte er in ein Paar praktisch unbenutzte Turnschuhe – auch sie von Doktor Florinos geliehen – und begann, auf der anderen Seite der Bahnlinie um den Sportplatz zu laufen. Vielleicht träumte er davon, mit der Fußballmannschaft des Dorfs trainieren zu dürfen, die für die neue Spielzeit Verstärkung benötigte und einen Aufruf an das schwarze Brett vor Nelsons Lebensmittelgeschäft geheftet hatte. Aber wahrscheinlich wollte er sich bloß bewegen. Er fühlte sich athletisch, er fühlte sich muskulös, er hatte jede Menge Energie. Während sich der Schweiß auf seinem Rücken ausbreitete, wurden seine Beine durch die Milchsäure immer steifer. Trotzdem war er von einem verwirrenden Glücksgefühl erfüllt. Jede neue Runde um den Fußballplatz schien ihn sich selber näher zu bringen. Er lief, dachte er, im Kreis. Er lief, dachte er, um eine unerreichbare Nabe einzukreisen. Auch wenn ihn jede neue Umrundung schneller atmen ließ, so dass er nach zwanzig Runden mit den Händen auf den Kniescheiben stehen blieb, während seine Lunge wie ein Blasebalg pumpte und aus seinem Mund Speichel mit dem Beigeschmack von Eisen sickerte, auch wenn man also nicht behaupten kann, dass er einen Mittelpunkt erreicht hatte, war Jannis verwirrenderweise glücklich. Denn er erkannte, dass der Körper sein eigenes Uhrwerk war.
    Als er im Keller duschte, muss ihn diese Einsicht nachdenklich gemacht haben. Wann wusste ein Mensch, dass eine neue Zeitrechnung begonnen hatte? Die selbstverständliche Antwort lautete: hinterher. Nach einer Zeitmenge x spürte er, dass y anders war und blätterte durch z zurück. Wenn er nicht mehr weiterkam, befand er sich an dem Anfang, den das erste Blatt eines neuen Kalenders anzeigte. Dieser Tag 1 konnte glücklich oder unglücklich sein, selbst verschuldet oder unfreiwillig, aber bildete er wirklich den Ausgangspunkt? Nicht selten stellte sich heraus, dass der Kalender Vorsatzblätter enthielt, die den nummerierten vorausgingen. JAHRESKALENDER 1967 hatte beispielsweise in roten Druckbuchstaben auf dem Kalender in Familie Florinos’ Küche gestanden. Und in feinen, ebenso roten Serifen auf dem nächsten Blatt: Verband der schwedischen Lebensmittelerzeuger. Diese Blätter waren kein Bestandteil der eigentlichen Zeitrechnung, sie waren ja nicht nummeriert, markierten als Vorsatz aber dennoch deren Bedingungen. Das meiste, was danach folgte, war so, wie es immer gewesen war, wie es immer sein sollte, nahm sich aber trotzdem frisch, roh, unbekannt aus. Von Zeit zu Zeit traf allerdings ein Ereignis ein, das es verdient hatte, mit besonderer Schärfe in Erinnerung zu bleiben. Deshalb waren manche Zahlen rot gefärbt wie Schöpfungstage in Miniaturausgabe. Und an diesem Punkt traten die Probleme auf, denn die roten Tage waren mit den Vorsatzblättern verwandt, die sich eigentlich außerhalb der Zeitrechnung befanden …
    In Jannis’ Fall saß die Erinnerung an den ersten neuen Tag am rechten Handgelenk. Dort zeigte ein zerbrochenes Uhrgehäuse fünf Minuten und etwa zwanzig Sekunden nach zwölf. Diesem Urknall war ein unvorhersehbares Ereignis nach dem anderen gefolgt. Die Nacht mit Kauders auf dem Bahnhof in Belgrad. Die Fahrstunden in Bromölla, bei denen er seinem Lehrer klar zu machen versucht hatte, dass Rückspiegel benötigt wurden, um in der Zeit zurückzublicken, und Jari Salonen lachend erwidert hatte, wenn er weiterfahre wie bisher, werde er mit Sicherheit mehr von der Gegenwart erleben, als ihm lieb sein konnte. Der lange Tag in der Chirurgischen Praxis in Kristianstad. Die kurzen Schlittschuhschritte auf dem Rövaren. Die erste Laufrunde um den Sportplatz, bei der er einen Pfad ausgetrampelt hatte, der mit jeder neuen Runde matschiger geworden war. Nicht einmal die Schwierigkeiten, die er mit der Grenzpolizei in Jugoslawien und Malmö hatte, oder die untätigen Tage am Küchentisch bei Efi und Kostas mochte er missen. Nein, wenn er an alles zurückdachte, was sich zugetragen hatte, seit die Zeiger auf der Poljot seines Vaters stehen

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