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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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bemerkt. Leise versuchte er sich rückwärts wieder aus dem Dorf zu stehlen, an Tsoulas’ Geschäft vorbei und den Hang hinunter. Aber als er sich bereits in Sicherheit wähnte, stolperte er über ein Weinfass. Statt sich am Feuer zu wärmen, ritten die Partisanen zu dem am Boden liegenden Mann. Mit Bedacht, fast friedfertig hoben sie ihre Gewehre an die Schultern, feuerten und verschwanden. Deshalb waren da auch die leeren Patronenhülsen und Hufspuren auf der Erde. Da waren die Ziegen, die ihre Mäuler auf die Brust des Vaters pressten, bis Jannis sich gezwungen sah, sie wegzutreten. Da war die Großmutter, die einfach zusammenbrach, als sie nach Hause kamen. Da waren die hässlichen Stunden hinterher mit heißem Wind und Hilflosigkeit. Und da waren die schwarzen Bänder, die Vasso, wortkarger denn je, an seine Hemden und Pullover nähte. Da war Vater Lakis, der versprach, ihnen beim Ausfüllen der Papiere zu helfen, die seiner Mutter einen Anspruch auf eine Rente garantieren würden. Da war die sowjetische Uhr seines Vaters, die ihm seine Großmutter schroff über die Hand streifte. Und da waren die Diskussionen darüber, ob der Junge weiter zur Schule gehen sollte oder nicht, woraufhin man beschloss, er solle es tun, wenn dafür genügend Zeit wäre. Aber vor allem war da das Grab. »Dein Junge ist jetzt der Mann im Haus«, sagte Despina zu Vasso mit einem Blick, in dem mehr als Mitleid lag. Sie drückte ihm den Spaten in die Hand. »Er muss dafür sorgen, dass dein Mann in Frieden ruhen darf.«
    Frage: Wie beerdigt man einen Vater, wenn man gerade erst acht geworden und die Erde hart ist?
    Antwort: Wir wissen es nicht. Aber Jannis schaffte es. Irgendwie. Als er viele Jahre und Kilometer weiter nördlich die Erde umgrub, kam ihm gleichwohl etwas anderes in den Sinn: Nach der Beerdigung hatte seine Großmutter nachts zu sprechen begonnen. Zur Einstimmung hörte man Vassos gierige Schnarcher (die klangen, als hätte sie den ganzen Tag darauf gewartet, die Welt zu verlassen und endlich für sich sein zu dürfen). »Dafür sind wir in dieses gottvergessene Kaff gekommen?«, murmelte Despina in der Dunkelheit. »Um meinen Sohn zu beerdigen?« Oder: »Verdammter Gott. Nicht einmal diese Fladenbrotesser haben es geschafft, aber du und deine Griechen. Wie konntet ihr mir so viel geben? Und mir noch mehr nehmen? Óch , bleib in deinem Loch, du feiges Kaninchen. Wir haben uns nichts zu sagen.« Oder: »Was die Männer betrifft, hast du mich nicht gerade glücklich gemacht. Erst nahmst du mir den Mechaniker, dann Vater und nun meinen Sohn. Wage es ja nicht, an den Jungen auch nur zu denken. Wenn du ihn bloß anhauchst, werde ich dich bis nach Afrika jagen, so alt ich auch sein mag. Du glaubst mir nicht? Ich nehme das Fahrrad.« Oder: »Nimm mich stattdessen, Gott. Ich mache nicht viel her, aber ich habe immer noch Hüften wie eine Kuh. Und meine Hände wissen, was sie tun. Lass Jannis in Ruhe. Hörst du mich? Lass Jannis in Ruhe.« Oder: » Auch wenn Vassos Plumpheit zum Steine erweichen ist, hat sie doch keiner Menschenseele jemals etwas zuleide getan. War es wirklich nötig, ihr meinen Sohn zu nehmen?« Oder: » Óch , es kommt mir vor, als wäre es gestern gewesen, als ich mir noch seine ganze Faust in den Mund stecken konnte. Jetzt kann ich es nicht einmal mehr versuchen.« Oder: »Erst die Türken, dann die Deutschen und die Bulgaren … Und jetzt die Griechen. Wen schickst du als Nächstes?« Als Jannis letzteres hörte, schrumpfte seine Zunge und er war unfähig zu schlucken.
    Bei der Beerdigung starrte Despina Vater Lakis so an, dass er sein Weihrauchfass abstellte. Deshalb wurde zum ersten und letzten Mal in Áno Potamiá der Name des Toten nicht ausgesprochen. Als Jannis Erde auf den Sarg geschaufelt, Steine auf die Erde gelegt und auf die Aufforderung der Großmutter hin auch einen Mandelzweig dazwischen gepresst hatte, erklärte Vasso, sie wolle allein sein. Sie sank auf die Knie, legte die Hand auf das kalte Erdreich und blieb so im Nieselregen knien. Der Sohn sah seine Mutter an, dann hakte er sich bei der Großmutter ein und ging heim. Er hatte Blasen an den Händen, sagte aber nichts. Als er Despina ins Bett helfen wollte, presste sie ihre Stirn gegen seine. So blieben sie stehen, reglos auf dem Kelim, mit dem Menschen zwischen sich, den es nicht mehr gab. »Deine Mutter findet sicher, dass ich hart bin, aber in mir ist keine Bosheit.« Die Großmutter versuchte zu lächeln. Als ihr das nicht gelang, nahm

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