Der letzte Grieche
meinem Körper!«, und sie hätte ihn zu gerne in die Wange gekniffen, wie die Griechen es immer taten. Aber als sie seinen Blick und die Zahnreihe sah, hart wie Marmor beziehungsweise Feuerstein, ließ sie die Hand sinken und beschränkte sich stattdessen darauf, das Grübchen im Kinn des Jungen zu studieren, während er zu begreifen versuchte, welches Bein in welchen Ärmel gehörte. Dieser Augenblick reichte aus, um bei ihr das Gefühl auszulösen, das sie weder leugnen wollte noch konnte und das Bengt mit Pupillen wie Stecknadelköpfen und folgenden Worten beschrieben hatte – den letzten, ehe er die Wohnungstür so fest hinter ihrem gemeinsamen Leben zuknallte, dass man es bis in das Heim für schwererziehbare Jugendliche gehört haben musste, in dem er gesessen hatte: »Du musst verdammt nochmal immer deinen Willen durchsetzen. Warum zum Teufel musst du immer deinen Willen durchsetzen?«
Agneta leugnete nicht, dass Kinder eine Quelle für Überraschungen und Begeisterung sein konnten, zumindest bis die Pubertät die Drüsen anschwellen ließ und es immer einen Körperteil zu viel gab. Aber sie mochte auch nicht leugnen, dass für sie selbst viel zu wenig übrig blieb. In Gegenwart der Jungen kam es ihr manchmal plötzlich vor, als wäre nicht genügend Luft da, als verwandelte sie sich in die Hände und Ohren und Füße der beiden, und dann wurde sie jedesmal zu einer Geisel ihres eigenen Lebens. Im Übrigen würde sie mit Kindern den Gedanken an Tanzböden und zeitlosen Müßiggang in Badewannen voller französischem Badesalz aufgeben müssen. Über letzteres lächelte sie müde. Agneta hatte niemals französisches Badesalz benutzt, auch wenn Bengt das behauptete. »Ich hoffe, dein kaltes Herz ersäuft in dem ganzen französischen Salz« – sowie weitere Worte dieser Art. Warum mussten Männer Muskeln im Gehirn haben? Warum begriffen sie nicht, dass Agneta das gleiche Bedürfnis hatte, über sich selbst zu bestimmen, wie sie? Hätte sie ihnen mit Kind mehr bedeutet als ohne?
Als sie aufstand, um den Apparat auszuschalten, in dem gerade eine Galaxie in einen lautlosen Mixer getrieben wurde, hörte man die Treppe zur oberen Etage knarren. Anfangs dachte sie sich nichts dabei, aber als das Geräusch in Schritte überging, schloss sie die obersten Knöpfe ihrer Bluse. Sie hatte den Kragen eine Stunde zuvor, nach Fläschchen und Bäuerchen, geöffnet, weil nackte Haut an Wange und Ohr das Kind beruhigte. » Signómi , Fräulein Agneta«, sagte die griechische Silhouette, die jetzt in der Tür stand. »Entschuldigung, ich meine.«
Ein junger Mann und eine junge Frau, beide ohne Partner, allein um halb elf an einem vorzeitigen Frühjahrsabend … Es fällt nicht weiter schwer, sich vorzustellen, wohin solche Bedingungen führen können. Im aktuellen Fall geschah folgendes: Jannis betrat den Raum, Agneta entdeckte, dass er auf Strümpfen war. Sie sah, dass die Strümpfe dünn waren und aus dem Ausland stammten, er wusste, dass sie ungewaschen waren. »Ein Grieche er ist still wie Tintenfisch«, erklärte Jannis, ohne sich der Musterung bewusst zu sein, die Augen auf die Bücherregale gerichtet. Sie beobachtete ihn unsicher. Breite Schultern, schmale Taille, muskulöse Beine – und ein gabardinebekleideter Po, der sich sehr deutlich abzeichnete, als er einen der Bände herunterholte. Er drehte und wendete ihn, als erstaunte ihn sein Gewicht oder auch sein Aussehen. Er wog ihn in den Händen, woraufhin er sich verabschiedete – etwas übertrieben auf Zehenspitzen und weiterhin lächelnd. »Oktopodi, du weißt?« Agneta zuckte mit den Schultern. Ihr BH kratzte.
Warum ist diese Szene es wert, sich an sie zu erinnern? Weil das Kindermädchen Zweifel beschlichen? Nein, nein, nicht daran, dass sie kein Kind wollte. Aber an dem anderen – dass sie den Männern mit Kind mehr bedeutete als ohne?
WIEGENLIED FÜR EINE ÖLHEIZUNG . Nach seinem Besuch in der Bibliothek machte Jannis Sit-ups – den Band mit allem zwischen Mandel und Mysterium an seine Brust gepresst –, bis sich seine Rückensehnen spannten wie ein Reisigbündel und der Bauch zu einem Block aus Säure geworden war. Während er der Ölheizung lauschte, beruhigte sich sein Puls unter dem Nachschlagewerk. In der Dunkelheit war er ganz er selbst und trotzdem Teil der Welt. In den hellen Stunden des Tages standen ihm Haut, Kleider, Gesten im Weg. Nicht einmal die neuen Worte, die er bei seinen Gesprächen mit den Kindern lernte, schienen ihm zu helfen, den
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