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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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ihn angesehen. Ihre Augen waren wie Asche. »Ich muss morgen nach Thessaloniki.« Daraufhin begann sie, in dieser Sprache zu singen, die er nicht beherrschte.
    Von dieser Erinnerung erzählte Jannis Florinos’ Sohn jedoch nichts. Stattdessen sang er weiter leise sein unverständliches Lied. »Abendessen«, erklärte Anton, als er den Ruf seines Kindermädchens durch das Küchenfenster hörte. »Weißt du was?« Er rutschte vom Schlitten herab. »Ich denke, ich behalte meinen Korken.« Aber unser Held hörte weder den Jungen noch das Kindermädchen. Stattdessen blickte er auf den Rövaren hinaus und fragte sich, was in ihm dort geschah, wo die Zeiten zusammenflossen, und wie es kam, dass die Zukunft sich ebenso gut in der Vergangenheit befinden konnte. Er dachte, dass man alles im Leben tun musste, als geschähe es zum letzten Mal, sonst verlor es an Bedeutung. Er dachte, dass der Abschied Disziplin erforderte. Er war sehr weit weg.
    DER OCH -MENSCH . »Ich war ja nur ein Kind, als wir damals auf dem Schlitten saßen. Aber ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, vielleicht auch, weil ich nicht verstand, worüber er sprach. Das Leben bestehe aus einer Menge verschiedener Ereignisse, behauptete er. Wenn man nicht Acht gebe, zerfalle es in seine einzelnen Bestandteile. So in der Art, wie üblich ein bisschen hochtrabend. Und dann sei man ein Mückenschädel, der nichts im Griff hatte. [Pause] ›Mückenschädel‹, fragst du? Das war nur so ein Ausdruck, den er benutzte. So wie ›Tss, Tss‹. Es galt, die Schmerzpunkte zu verbinden. ›Och‹ sagte er, stolz, dass er das schwedische Wort für ›und‹ gelernt hatte, und kniff mich in die Wange. Die ganze Welt bestand aus ›och‹ . [Neue Pause] Du weißt, dass seine Großmutter sich immer an die Brust griff und ›óch‹ stöhnte, also ›ach‹ sagte, wenn sie die Fragen hörte, die ihm durch den Kopf gingen? Wenn ich es recht bedenke, glaube ich, dass Jannis ihr griechisches óch im schwedischen och gehört haben muss. Jede Verbindung war schön und vergänglich, also brannte sie und tat weh. Wie Mückenstiche. So habe ich jedenfalls oft an ihn gedacht. An den Och -Menschen.« (Aus einem Telefoninterview mit Anton Florinos im Januar 2009.)
    KURZE UNTERBRECHUNG . »Hast du wirklich seine Erlaubnis? Ich meine, wenn du vorhast, einen biografischen Roman zu schreiben, musst du ihn da nicht erst um Erlaubnis bitten? So, so, ein Sachbuch? Nenn es, wie du willst. Ich habe jedenfalls nicht vor, über Jannis zu sprechen, ohne dass er es wünscht. Nein, ich finde nicht, dass das reicht. Nur weil es sich um einen Roman handelt – entschuldige, um ein Sachbuch – hat man noch lange kein Recht auf die Geschichten anderer Menschen. Im Übrigen habe ich immer gedacht, die Gehilfinnen Clios dürften kein Leben abhandeln, das noch weitergeht. Sind die Griechen nicht immer gut für … Also, ich habe gesagt, sind die Griechen nicht immer … Hallo? Hallo-o …« (Das gleiche Interview, nur etwas später.)
    TINTE UND WATTE . Nach dem Abendessen an jenem Tag, an dem Jannis mit Familie Florinos’ Sohn auf dem Schlitten gesessen hatte, erlebte Agneta etwas Ungewöhnliches. Der Himmel war finster und voller Wolken, wie in Wasser aufgelöste Tinte und Watte darauf. Irgendwo glitzerten Millionen unerforschte, eventuell bewohnte Planeten, jedoch nicht hier, nicht an diesem Himmelszelt, das oberhalb des Tiefdruckgebiets, das sich vor ein paar Tagen über das Land geschoben hatte, vermutlich weiterhin existierte. Die Florinos waren von Ado von Reppe zu einem Smokingdiner eingeladen worden, und Agneta hatte den älteren Kindern drei Märchen vorgelesen, obwohl die Frau des Doktors gemeint hatte, eins reiche völlig aus. Endlich schlief auch der jüngste in seinem Wagen mit den federnden Rädern, den sie sicherheitshalber weiter schaukelte, während sie vor dem lautlos flimmernden Fernsehapparat auf der Couch saß.
    Mittlerweile hatte sie vier Monate bei der ausländischen Familie verbracht. Die neu gewonnene Distanz zu Bengt und den Problemen war eine Leistung, für die sie einen Orden verdient zu haben glaubte. Sie schätzte das Gefühl, gebraucht zu werden. Es gefiel ihr, nie zu wissen, was die Kinder sich als Nächstes einfallen lassen würden. In einem Moment war der Dschungel voller schnatternder Silberäffchen, im nächsten bebte die Erde von krampfhaftem Weinen. Während des Schlafanzugrituals schrie Theo: »He, sei vorsichtig mit meinem Körper! Es gibt ein Skelett in

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