Der letzte Grieche
atmeten, sich ernährten und acht Beine hatten? Unser Held hatte entdeckt, dass die Zeit, die ein Mensch durchlebte, ein Wirrwarr aus Gängen und Schlupflöchern enthielt, das den Kalendern fehlte. Auf diese Weise wurden Ereignisse miteinander verbunden, die Jahre und Länder voneinander entfernt lagen. Wenn er eine Begebenheit in Balslöv zu »einem unerwarteten Fall von Donnerstag mit deutlichen Einschlägen von Dienstag« ernannte, mochte dies bedeuten, dass der Tag etwas Lustvolles, aber Schmerzliches berührte, was er als Kind erlebt hatte. Oder umgekehrt: Eine Geschichte über Smyrna, die ihm seine Großmutter erzählt hatte, ohne dass er jemals ihre Bedeutung erfasst hätte, offenbarte ihre Bedeutung, als sie mit etwas verbunden wurde, was er bei Familie Florinos tat. Für Jannis bestand die Zeit aus Verdichtungen und Verdünnungen. Es erschien durchaus möglich, dass ein Jahrhundert 63 Jahre und ein anderes 128 Jahre lang war.
Die seltsamste Schlussfolgerung steht allerdings noch aus, und die zog er nach dem Mittagessen. Während Manolis in der Zeitung von gestern nach etwas Lesenswertem suchte und Lily den Tisch abdeckte, nahm Jannis den Kalender von der Wand. Auf einem Reklameblatt einige Blätter weiter sah man zwei brütende Hühner. Aus dem Mund des einen stieg eine eiförmige Sprechblase auf: »Die schwedischen Lebensmittelhändler wissen, gut Ding will Weile haben.« Was er nicht lesen konnte. Das andere Huhn antwortete: »Frohe Ostern!« Was er ebenso wenig lesen konnte, obwohl er erriet, was es bedeutete. Daraufhin geriet er ins Grübeln. Als er sich in den Keller zurückzog, fühlten sich die Treppenstufen unter seinen Fußsohlen so weich an, als wäre der Stein zu Wasser geworden, auf dem sich wandeln ließ. Auf seiner Bettcouch liegend erkannte er, es war nicht so, dass ein Ereignis niemals stattgefunden hatte. Ein toter Vater war ein toter Vater. Ein alter Freund war ein alter Freund. Ein surrender Kastanienbaum war ein surrender Kastanienbaum. Aber die Erinnerungen veränderten ihren Charakter. Was heißen müsste, dass es eine Verbindung zwischen einer bestimmten Begebenheit und anderen gab, zu denen es früher oder später kam. Wenn die Erinnerungen andere Erinnerungen enthielten, existierte demnach eine Zeit, in der die unterschiedlichen Zeitformen miteinander in Kontakt standen. Hier mochte sich die Zukunft längst erledigt haben, während die Vergangenheit noch darauf wartete, sich zu ereignen. Wer die Verluste verstehen wollte, aus denen das Leben bestand, musste die Zeit folglich kanalisieren. Man könnte auch sagen: Der Abschied verlangte eine Disziplin. Unglaublich. An diesem Tag erfand Jannis die Zeit nicht als Gefängnis, sondern als Freiheit.
ZWÖLF SONNTAGE IN EINEM . Zwei Tage nach dem Mittagessen mit der Familie Florinos stand Jannis erneut in der Küche – diesmal mit Blut bis zu den Ellbogen. Es war exakt 1934 Jahre nach Christi **, was Vater Lakis’ Art war, die Wiederauferstehung Jesu im Kirchenbuch zu notieren. Unter einem Handtuch ging ein Teig. Der Ofen war eingeschaltet, und auf dem Herd grollte der größte Topf, den er in den Schränken gefunden hatte. Er hob den Deckel ab und rührte im Gewitter. Ein Teil des roten Regens war bereits durch den Abfluss geflossen. In der Spüle schimmerte eine aufgequollene Zwiebel, die er in den Abfall beförderte. Sie dampfte. Jannis nieste.
Frühmorgens war Jannis wie üblich seine Runden gelaufen. Nachdem er den Fußballplatz mehrmals umrundet hatte, war er es leid gewesen und hatte beschlossen, an den Strafraumlinien und schließlich auch an der Mittellinie entlang zu laufen. Als er zum x-ten Mal den Kreis umrundete, den Ado von Reppe kürzlich mit Kreide nachgezogen hatte, und keuchend auf dem Anstoßpunkt stehen blieb, mit prallen Beinen, kam ihm seine Idee. Wie sahen Anstoßkreis und Mittellinie vom Himmel betrachtet aus? Richtig. Wie eine gezeichnete Version des Derwischs Killi. Er lächelte. Dann schlug er sich auf die Schenkel, füllte seine Lunge und beschloss, in einem Atemzug nach Hause zu sprinten.
Zwei Stunden später beendete die Familie Florinos ein aus Sachertorte bestehendes Frühstück. Nun strich sich der Kellergrieche mit rot verfärbten Nägeln durchs Haar. Nachdem er einen Blick mit Lily gewechselt hatte, erklärte er, er habe im Garten Eier versteckt. Doch, die Kinder hatten richtig gehört. Er reichte ihnen eine Skizze des Grundstücks. Es galt, die Eier zu finden und die Fundorte auf der Karte zu
Weitere Kostenlose Bücher