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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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brauchte seine Unabhängigkeit wie andere ihren Schlaf, er brauchte sein Gehirn wie andere ihr Bankfach. Im Gegensatz zu unserem Helden in diesem Kiefernholzkasten, der trotz aller Stolpersteine, die ihm in den Weg gelegt wurden, so unbekümmert blieb, trieb Kostas der Wille an, sich zu entfernen. Er wollte sich über die Marshall-Hilfe und die Lektionen in nationaler Erziehung erheben, er wollte flüchten und verschwinden. »Fort« lautete seine Parole. Wer weiß schon, warum? Manche Menschen sind einfach so. Sie suchen nicht den Weg zu, sondern fort von etwas. Sie wollen nicht ankommen, sondern abreisen.
    Hatte das jemand in dem Klassenzimmer in Neochóri geahnt? Hätte sich Magister Nehemas vorstellen können, dass die sogenannte Leuchte der Klasse, die mehr über die Vergangenheit des Landes wusste als jeder andere und Gedichte deklamierte, wie Solonos es getan haben soll, mit spröder, aber fester Stimme, alle lobenden Worte als eine Qual und Noten als eine Demütigung empfand? Oder dass der Jüngling, der vor Ableistung seines Wehrdienstes in dem Postamt arbeitete, das zuerst von seinem Großvater und später von seinem Vater betreut wurde, und beim Frankieren der Briefe mit einer von einem Gummifingerhut gezierten Hand rauchte, der zur Provinzhauptstadt fuhr, um sich an den dortigen Protestaktionen zu beteiligen, die von den Pazifisten organisiert wurden, und sich später nachts aus dem Haus schlich, um kalkweiße Buchstaben an Wände zu pinseln – hatte jemand geahnt, dass dieser Jüngling kaum ein Jahr, nachdem Efi in ein schwedisches Krankenhaus aufgenommen worden war, den Bus aus den Bergen nehmen und nach einem Exodus, nicht unähnlich dem seiner Schwester, in Bromölla landen würde? Nein. Niemand. Niemals. Wir könnten sagen, dass es an den privaten Labyrinthen lag, die ältere Generationen seinen Schultern aufgebürdet hatten, bis er den Sinn für sich selbst verlor. Wir könnten behaupten, dass er rußige Nischen satt hatte und von hellen, praktischen Wohnzimmern träumte. Wir könnten sogar verkünden, dass seiner Überzeugung nach alles besser war, als an die Galeere der Erwartungen gekettet zu werden. Und nichts von all dem wäre gelogen. Aber die Wahrheit ist einfacher. Er erlebte es, als würde er sinken und seine Form verlieren. In dem Abschiedsbrief, den er in Neochóri neben den Tauchsieder legte, beschränkte er sich darauf, seinen Eltern mitzuteilen, dass er genug hatte. »Es tut mir leid, aber nachdem ich für den Frieden im Gefängnis gesessen habe, muss ich mich von griechischer Torheit erholen.«
    Kostas war Pazifist, Kostas war Republikaner, Kostas gedachte sein Leben »internationaler Solidarität, bisher nicht katalogisierten Mythen, verblüffender Poesie zu widmen – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich nicht in einem Land bleiben kann, in dem die Freiheit nur ein Wort ist. Versucht es so zu sehen: Als Auslandsgrieche werde ich vielleicht heimfinden.« Durch Herrn Nehemas’ Vermittlung hatte seine Schwester vor einiger Zeit Kontakt zu dessen Bruder aufgenommen, der in Bromölla arbeitete und sich darum gekümmert hatte, dass sie endlich mit mehr als Schraubenziehern und -schlüsseln oder was immer im Krankenhaus von Thessaloniki benutzt wurde, operiert werden konnte. Jetzt plante Kostas, sie zu besuchen. Natürlich würde er den Kontakt nach Hause nicht abreißen lassen. Im Übrigen waren Efi und Iakov Nehemas nicht die einzigen Griechen in dem Ort. Es gab dort eine kleine, aber aktive Schar von Landsleuten mit Vereinslokal, Fahne und allem.
    Mehr schrieb er abgesehen von seinem Namenszug nicht. Und im Grunde meinte er wohl nur die Hälfte von dem, was er sagte. Wahrscheinlich rechnete Kostas nicht damit, seine Schwester umgeben von Topfpflanzen und Krankenschwestern zu finden, die jede Frage mit einem inhaltslosen Lächeln quittierten. Und wahrscheinlich sah er auch nicht voraus, dass die Solidarität, von der er träumte, oder die Erfahrungen, die er in dem neuen Land zu sammeln hoffte, ihn mit der Zeit in einer Weise überwältigen würden, die ihm eine Rückkehr unmöglich machte. Aber als Iakov Nehemas starb, nachdem er in den letzten Wochen nur noch über kezo blanko hatte sprechen wollen, einen Platz, auf dem er gemeinsam mit tausenden anderer Männer, inklusive eines prominenten Professors für Hydrologie, von morgens bis abends gestanden haben soll, sowie darüber, wie viel ein gefälschter italienischer Pass einen evréos kosten kann, führte sein Tod zum ersten

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