Der letzte Grieche
beim Menschen, und ist für deren Überlebensfähigkeit von entscheidender Bedeutung. Die Furcht ist also nichts, was die Tiere missen könnten. Im Gegenteil, sie schützt ein Tier vor gefährlichen Handlungen oder Situationen. Indem sie es davor bewahrt, unnötige Risiken einzugehen, minimiert diese Reaktion zudem die Gründe für zukünftige Furcht.
Dieses Phänomen – ein Typ von Angst, der zu weniger Angst führt und folglich eine Investition in eine sicherere Zukunft darstellt – bedeutet, dass die Tiere mit der Furcht umzugehen lernen. Die Furcht funktioniert anders als panische Angst, was sich anhand der Ziege studieren lässt. Ist sie beispielsweise in einer frühen Phase ihrer Entwicklung einmal dem Geruch eines Wolfs begegnet, wird sie instinktiv Plätze scheuen, an denen Urin, Haare oder Sekret die Gegenwart des Raubtiers ankündigen. Die Angst verfeinert ihren Überlebensinstinkt, so dass die Ziege mit der Zeit nicht mehr Panik, sondern Furcht empfindet, wenn sie annehmen muss, dass sich in ihrer Nähe Wölfe aufhalten. Sie hat gelernt, mit ihrer Angst zu leben. Manchmal schätzt das Tier die Bedrohung jedoch falsch ein. Dann werden die bedingten Mechanismen außer Kraft gesetzt, allein die unbedingten bleiben, und das Tier verspürt erneut Panik. Je stärker die Fluchtmöglichkeiten schwinden, desto wahrscheinlicher ist es, dass das Tier stehenbleibt, ohne zu atmen oder zu zwinkern. Nicht einmal die buschigen Ohren oder die knochigen Beine zittern. Die Ziege kennt nur den einen Wunsch, dass die Gefahr vorübergehen möge. Ihr ganzes Verhalten deutet darauf hin, dass sie tot ist. Zoologen sprechen in diesem Zusammenhang von einem »Totstellreflex«. Mit etwas Glück wird das Tier in Ruhe gelassen. Wenn dies geschieht, so kann es daraus eine eigentümliche Lehre ziehen: Fortan weiß es, wie der Tod angewandt werden muss, um das Leben zu retten.
Vieles deutet darauf hin, dass Jannis sich einer unausweichlichen Bedrohung ausgesetzt fühlte, als er in der Küche in der Stiernhielmsgatan, dritte Etage, ohne Aufzug, saß. Da dies nicht zum ersten Mal geschah, konnte er sich das Gefühl jedoch zu Nutze machen. Der Vorteil äußerte sich so: Er saß mucksmäuschenstill, bis die Gefahr vorüber war. Anschließend maskierte er seine Furcht mit einem Lachen.
MIMAKEL . Ob die Griechen, die Anfang der sechziger Jahre die Züge gen Norden nahmen, Panik oder Furcht empfanden oder im Gegenteil Erleichterung und Befreiung, muss von Fall zu Fall entschieden werden. Die Statistik zeigt nur, dass es acht von zehn in eines der Industriegebiete zog, die dem bundesdeutschen Arbeitgeberverband zufolge eine »magnetische« Anziehungskraft auf Gastarbeiter ausübten. An diesen Orten herrschten gute Voraussetzungen, um Geld in der Währung zu verdienen, die als die härteste auf der Welt galt. Seit die ersten Makedonier einige Jahre zuvor Arbeit in Stahlwerken und Gruben gefunden hatten, schickten sie Umschläge voller Geldscheine, Instamatic-Fotos und Ausrufezeichen nach Hause. Später folgten ihnen Verwandte und Bekannte nach – und zwar in solcher Zahl, dass sich manche Provinzverwaltung besorgt zeigte. »Wir hätten den Leuten in den Bergen eine Kanalisation geben sollen«, war ein Kommentar, den man damals häufig in den Korridoren des Amts für Hydrologie hörte. »Dann würden die Bauern heute ihr Sanitärporzellan polieren. Was machen wir jetzt?«
Die Bereitschaft, Auslandsgrieche zu werden, gab es auch in der Bevölkerung von Áno Potamiá, wo man laut Vater Lakis niemals Makedonier im Allgemeinen, sondern immer nur im Besonderen war. Nicht so Jannis. Abgesehen von ein paar Einwohnern Izmirs, die taub und plattfüßig waren, Krater im Kinn aufwiesen und Modernisierungsreformen wie die Trennung von Staat und Moschee überlebt hatten – statistisch gesehen können das nicht viele gewesen sein –, fehlte es ihm an Verwandten an anderen Orten auf der Welt. Und in seinem Heimatdorf handelte es sich genau genommen um eine Großmutter (*1877), eine Mutter (*1922) und eine Ziege (*1949). Soweit er wusste. Er hatte also keinen Grund zu glauben, dass sein Leben woanders besser sein würde. Eventuell für ihn selbst, aber wohl kaum für seine Familie. Und da wir inzwischen ahnen, dass Jannis sich als einen Menschen sah, der nicht bei Ellbogen oder Knien aufhörte, sondern sich unter der Haut anderer Menschen fortsetzte – wir werden in Kürze ein Beispiel anführen, das ein Zwerchfell einschließt –, wissen wir auch, dass
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