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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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Lexikonartikel mit schwedischem Poststempel. Kostas wollte nämlich nicht riskieren, dass Nehemas’ Leben zu der Sorte von Anekdoten verkam, mit denen die Griechen im Vereinslokal ihr Leben ausschmückten, sondern zeichnete alles auf, was er gehört hatte, und schickte das Material ein.
    Seine Fürsorge ließ die Gehilfinnen Clios, die ohne Eleni Vembas weitergearbeitet hatten, ernsthaft darüber diskutieren, ob man vielleicht doch auch Mitarbeiter des anderen Geschlechts zulassen sollte. »Er kann doch nichts für seine maskuline Endung. Lassen wir ihn Elenis Platz einnehmen. Wir brauchen frisches Blut«, meinte Doktor Osborn, die immer schon der Meinung gewesen war, dass dem Verbund etwas von einem Nähkränzchen anhaftete. Mary Fourlis in Toronto war da jedoch weniger sicher und Ourania Smythe-Johnston strikt dagegen. »Progressive Jugendliche haben in einem Vorhaben nichts zu suchen, das seinem Wesen nach konservativ ist«, erklärte letztere, die mit einem Mann in führender Position beim Geheimdienst verheiratet war. »Aber lassen wir ihn in diesem Sozialistenland ruhig Informationen sammeln. Für irgendwen können sie sicher von Nutzen sein.« Als Kostas gefragt wurde, ob er sich vorstellen könne, als Volontär zu arbeiten, antwortete er, das Angebot schmeichle ihm. Leider könne er jedoch nicht regelmäßig Bericht erstatten, geschweige denn seine Zukunft in der Vergangenheit verbringen. Der bestickte Wintermantel seiner Großmutter passe ihm einfach nicht. Übrigens lebe sie noch, weshalb er sich mit der geneigten Erlaubnis der Gehilfinnen weiter seinen lustigen privaten Träumen widmen werde.
    Für Kostas schrieb man nie das Jahr 1922, 1941 oder 1965 – für ihn schrieb man immer das Jahr 1. In seinen Augen bedeuteten die Abenteuer früherer Smyrnioten bei lebensgefährlichen Busfahrten durch die argentinische Pampa, mit Sonnenbrillen auf der vorstehenden Nase und dreiundsechzig Dollar in der Tasche, ebenso viel wie die politische Botschaft auf der Rückseite einer arabischen Zigarettenschachtel. Oder das Schicksal, das eine Fahrradpumpe englischen Fabrikats in den Händen aufeinander folgender Besitzer ereilt haben mochte. Ebenso viel , nicht ebenso wenig. Er verstand nur zu gut, warum die Gehilfinnen keinen Schlaf fanden bei dem Gedanken an einen jungen Priester mit ausgestochenen Augen, an schreiende Kinder, die man in den Straßengraben geworfen hatte wie Säcke mit verfaultem Reis, oder an zwei jüdische Brüder, deren Familie erst in Konstantinopel und später hinter dem Bahnhof von Thessaloniki eine Messinggießerei besaßen. Aber da er nun einmal war, wie er war, blieb ihm unbegreiflich, warum sie nicht den gleichen Krampf aus rebellischer Trauer bei dem Gedanken an ähnliche Ereignisse im östlichen Transvaal 1901 oder in einer Schlucht vor den Toren Kiews vierzig Jahre später empfanden.
    Kostas war in der Welt, in die er hineingeboren worden war, abwechselnd glücklich und unglücklich, so wie ihn alles aufheiterte und deprimierte, was er auf seiner Reise durch Europa sah – jäh abfallende jugoslawische Schluchten, eine Perlenkette aus deutschen Städten mit funktionalen Stadtzentren, Kilometer um Kilometer dichter schwedischer Wald –, obwohl er häufig in Tagträume versank und obwohl ihm von dem Slibowitz seines Abteilnachbarn schlecht wurde. Am Fenster sitzend dachte er, dass es keine Rolle spielte, wo oder wann er geboren war, er würde ohnehin immer gleichermaßen selig wie misstrauisch sein. Er fühlte sich genau wie damals, als er hingerissen die bulgarischen Zigeuner mit einem zahmen Bären hatte auftreten sehen und gleichzeitig verzagt an den morgigen Schultag gedacht hatte. Der Grund für sein Unbehagen war nicht, dass er weniger Familiensinn hatte als andere und sich über seinen Platz im Clan unsicher war oder darüber, was seine Großmutter im Licht der Petroleumlampe tat. Wäre er gefragt worden, hätte er geantwortet, dass sowohl er als auch Eleni Vembas Kezdoglous waren, nicht mehr und nicht weniger.
    Anstrengend, launisch, überspannt … All das war Kostas. Und all das, dachten seine Eltern und später auch seine Schwester, würde vorübergehen, wenn seine Stimme sich endlich zwischen den Stimmbändern zurechtfand. Aber sie irrten sich. Der Rhythmus in seinem Inneren, der Klang in seinen Gedanken und Gefühlen, die spröde, gleichsam transparente Melodie, die er gelegentlich auffing, fast versehentlich und immer als eine Gnade, diese Tonfolge, die er in seinem Mund zu

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