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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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verbergen und mittels komplizierter Übungen zu Reim und Rhythmus mit seiner Zunge zu verschmelzen träumte, war der Grund für die Feindseligkeit. Er suchte seine Eigenart nicht in dem, worüber er sprach, sondern darin, wie er es formulierte. Die meisten Gehirne haben ihre Sonntage, seines durfte dagegen nicht einmal einen halben Feiertag erleben. Der Zustand konstanter Wachsamkeit, in dem er sich seit seinem dreizehnten Lebensjahr befand, war nicht nur qualvoll für ihn selbst, sondern auch für die meisten Menschen in seiner Nähe. Er war vor Schüchternheit wie gelähmt und brachte kein Wort über die Lippen. Er errötete aus unerklärlichen Gründen oder geriet durch Nichtigkeiten derart in Rage, dass die Worte sich stauten, um dann auf einen Schlag zu zehnt oder zwölft herauszukommen. Wutschnaubend lief er vom einen Ende des Dorfs zum anderen, nur um zu entdecken, dass er völlig vergessen hatte, warum es solch eine unverzeihliche Sünde war, dass Efi die illustrierten Sagen, die sie sich ausgeliehen hatte, auf den Schreibtisch und nicht ins Bücherregal zurücklegte. Jede normale Handlung bekam eine so komplizierte Form, löste eine solche Menge an Assoziationen in seinem Gehirn aus, dass er nicht mehr zu tun vermochte, was er mehr als alles andere wollte, oder das Ganze aus schierer Nervosität vermasselte. Es war, wie seine Großmutter bemerkte, »das reinste Anstaltsverhalten«.
    Als Kostas älter geworden war und über seine eigene Unmöglichkeit lachen konnte – »Ich war wie geschaffen für die Geheimpolizei, Jannis, nur die Paranoia fehlte« –, übertrieb er wiederum in umgekehrter Richtung. Weil er nur sehr wenig ernst nahm, aber frohen Mutes seine rechte Hand für das Recht anderer, dies zu tun, geopfert hätte, vermochte er bloß zu scherzen. Nur über einen Menschen riss er niemals Witze: den Gynäkologen und früheren Weitspringer Gregoris Lambrakis. Aber das Heiligste, all das, was nichts mit einer Suppenküche für Arbeitslose oder Friedenspolitik in einem Kalten Krieg zu tun hatte, war gleichzeitig das am wenigsten Selige unter und über dem Betrug, der Himmel genannt wurde. Bierce, Lautréamont und Kariotakis, der französische Waffenlieferant in Afrika und der tuberkulosekranke Junggeselle in Prag … Sie alle waren die »metaphysischen Hasardeure«, die sich selbst sahen, wie Kostas sich zu betrachten wünschte: mit anderen Augen.
    Eines Vormittags besuchte er den Dorffriseur, der in Personalunion Redakteur von O Neochorítis mit einer Auflage von 100 Exemplaren und Erscheinungstag Freitag war. Der Mann hatte von den Gedichten gehört, die der Siebzehnjährige geschrieben und unvorsichtigerweise seinem Lehrer gezeigt hatte. Vom ersten Moment an störte der abgestandene Geruch im Redaktionsraum (ungewaschene Unterwäsche, saurer Joghurt) Kostas, weshalb er statt von den Gedichten zu erzählen, die er unter der Matratze liegen gelassen hatte, die Zitate erläuterte, aus denen sie seiner Ansicht nach bestanden, und zwar nicht nur teilweise, sondern ganz – Anleihen, mit denen Kostas einzig und allein Herrn Nehemas’ Gelehrsamkeit hatte testen wollen, was es natürlich völlig unmöglich machte, eine dieser Fingerübungen jemals in welcher Form auch immer wiederzugeben. Am allerwenigsten auf Griechisch.
    Nein, es war nicht leicht. Wieso wie ein Lot? Ja, mein Gott. Wieso ein Lot?
    TOTSTELLREFLEX . In Bromölla saß Jannis immer noch regungslos am Küchentisch. Ein Blick ins Tierreich kann uns helfen zu verstehen, warum dies so war.
    Wenn ein Tier, beispielsweise eine Ziege, Furcht empfindet, steht ihm eine begrenzte Zahl möglicher Reaktionen zur Verfügung, wobei sich unbedingte und bedingte Reflexe unterscheiden lassen. Beide Arten sind Teil dessen, was Verhaltensforscher das defensive System des Tiers nennen. Während Reaktionen der ersten Art jedoch so unmittelbar sind, dass sie einen integrierten Teil des neuroanatomischen Apparats bilden, lassen sich Reaktionen der zweiten Art nur mit Hinweis auf frühere Erfahrungen erklären. Mit anderen Worten: Die bedingten Reflexe setzen eine traumatische Vorgeschichte voraus. Die Reaktionen variieren abhängig vom Bedrohungsbild. Manche Tiere versuchen zu fliehen, während sich andere verstecken oder Ablenkungsmanöver praktizieren, die in manchen Fällen ausgesprochen kompliziert sein können. Allen Reaktionen gemeinsam ist jedoch, dass das Tier eine unausweichliche Angst empfindet. Diese tritt bei sämtlichen höheren Wirbeltieren auf, auch

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