Der letzte Grieche
Ich erwarte Besuch.« Im Übrigen beschlossen die Gehilfinnen Clios schon bald, sich mehr den Griechen als bloß den schiffbrüchigen Smyrnioten zu widmen. Trotz des Kriegs und anderer Entbehrungen erschien in regelmäßigen Abständen eine neue Veröffentlichung. Heute findet man diese Raritäten nur in gut sortierten Antiquariaten. Der zweite und dritte Band, in kleiner Auflage 1932 in Neochóri beziehungsweise 1937 in Toronto herausgegeben, wurden von Flüchtlingen gekauft, die etwas über Familie und Freunde lesen wollten. Band 4 ist nicht aufzutreiben, da Athanassia Osborn ihn in jener Woche herausgab, in der japanische Kampfflugzeuge über die Palmen bei Pearl Harbour hinweg strichen. In Astoria, New York, hatte man daraufhin andere Sorgen als Griechen im Exil, und die noch ungebundenen Bücher wurden als Packmaterial in den Kisten mit Hilfsgütern benutzt. Teil 5, den Aphrodite Tsianos in Melbourne lektorierte (nicht »Malborn«, wie im Impressum steht), war lange Zeit in Gleerups Buch- und Papierhandlung in Lund erhältlich, während die limitierte Auflage des sechsten Bandes, die man von dem wenigen vorhandenen Geld hatte drucken können, 1949 herausgegeben von Ourania Smythe-Johnston in Salisbury, Rhodesia, zerstört wurde, als die Lagerhalle abbrannte.
Dann starb Konstantinos Kezdoglou. Eleni, am Boden zerstört, zog zu ihrer Stieftochter Soula, wo sie teilnahmslos vor den Papierstapeln auf ihrem Sekretär saß, Anispastillen kauend, aber unfähig, den Stift zu heben, verloren in dem, was zu einer einzigen Leere geworden war. Ihre Kolleginnen diskutierten, ob sie weitermachen sollten, einigten sich jedoch darauf, zunächst abzuwarten. Früher oder später würde ihre Freundin sicher einsehen, dass man eigenes Leiden nur ertrug, indem man das anderer linderte. Leider kostete sie dieses Warten viele Leser. Die Generation, die nach dem Krieg aufwuchs, ging ihnen praktisch verloren. Als die Gehilfinnen Clios ihre Arbeit schließlich ohne Eleni wieder aufnahmen, merkten sie, dass die Leser sich nicht mehr zurechtfanden. Für den jungen Kostas, der zwei neue Bände zu seiner Konfirmation bekam, bildete das Nachschlagewerk ein Monument über die Mühen und Migränen älterer Landsleute. Wäre er gefragt worden, hätte er prophezeit, dass die Veröffentlichung auf natürlichem Wege enden würde. Auch »das goldene Jahrhundert der Migration«, über das seine Großmutter in ihrer Einleitung zum ersten Teil so schön geschrieben hatte, währte ja keine Ewigkeit. War sie selbst trotz ihrer Phantomschmerzen nicht ein stichhaltiger Beweis dafür, dass ein Mensch neue Wurzeln schlug?
Jannis und Efi schwiegen, als Kostas ihnen von den Gesprächen erzählte, die er mit seiner Großmutter geführt hatte, während die restliche Familie Mittagsschlaf hielt. Kostas wollte die Anstrengungen der Gehilfinnen nicht herabwürdigen, sie waren groß, sie waren phänomenal, und jeder Auslandsgrieche hatte es mit Sicherheit verdient, in Erinnerung zu bleiben. Aber gleichzeitig … Warum konnten sie keine lebenden Personen schildern? Zumindest in Ausnahmefällen? Sonst war dieses Nachschlagewerk doch der reinste Friedhof? Im Übrigen fand er, dass der Vorsatz fatal an Kolettis’ große Idee erinnerte. Wenn die Gehilfinnen Clios wirklich konsequent sein wollten, mussten sie auch all jener Griechen gedenken, die von Griechen vertrieben worden waren. »Oder nehmt die Gastarbeiter. Keiner von ihnen hat Griechenland auf Grund von Verfolgung verlassen. Trotzdem sind sie Opfer eines Staats, der nicht in der Lage ist, sich um seine Bürger zu kümmern.« Kostas schnitt eine Grimasse. »Clio scheint zu finden, dass die Schicksale von Menschen, die ohne Zwang ihr Land verlassen, nicht edel genug sind.« Er persönlich müsse gestehen, dass die Laute, die aus dieser Schrift aufstiegen, nicht wie Weckrufe für hellenische Vögel klangen, sich aus den Feuerstätten der Vergangenheit zu erheben, sondern eher wie erstickte Tränen und schwingende Weihrauchfässer. Eine solche Musik lasse sein Herz sinken wie ein Lot.
»Ein Lot? Wieso das?«
WIESO DAS? Es ist nicht ganz einfach, den Menschen zu beschreiben, der Jannis gegenüber saß. Dennoch müssen wir es versuchen. Es gibt in ihm etwas, das scheu und schwer zu fassen ist, nicht wie die Schlange, sondern wie der am Haken fixierte Wurm. Der zurückgelehnte Stuhl, Hermodskurse, Zigaretten und Dichtung … All das war Kostas’ Art, sich zu winden, um seine Selbständigkeit zu verteidigen. Er
Weitere Kostenlose Bücher