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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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plötzlich kraftlos, als sie die Tasche weglegte und ihn in den Bus geleitete. Oder vielleicht doch nicht kraftlos. Es war seltsam, aber als alle Kraft aus ihm wich, verhärteten sich gleichzeitig Monate der Mühe und Trauer, bis er anscheinend ganz und gar – »nun ja, aus dem bestand, wovon ich dachte, dass sie es wohl sehen könnte«.
    Andere Männer in der näheren Umgebung besuchten den Bus so selbstverständlich, wie sie ihre Kinder schlugen oder die Kirche vernachlässigten. Aber Konstantinos war ein pflichtbewusster vierfacher Vater, der schon bald Witwer sein würde. Bei dem Gedanken an das nicht zugestellte Schreiben, das er in die Tasche geschoben hatte, drehte sich alles in ihm. Und in ihm drehte sich auch alles bei dem Gedanken an das, was er in dem Bus getan hatte. Nach seinem Besuch, bei dem er aus schierer Verlegenheit seine Posttasche vergessen hatte, wagte er es nicht, die Frau nochmals zu besuchen. Wenn Eleni es für richtig hielte, würde er sie nicht daran hindern, ihn beim Postchef in Thessaloniki anzuzeigen. Aber die stellvertretende Leiterin der Expedition für unzustellbare Post strich dem Sünder nur über die Fingerknöchel. Alles in allem nutzten Phantomglieder niemanden etwas. Seine verstorbene Frau hätte ihr sicher zugestimmt. Taktvoll erkundigte sie sich nach dem Bus und erfuhr den Namen der Inhaberin. Ohne dass Kezdoglou es ahnte, sollte seine Antwort gleichbedeutend mit dem Anfang der Enzyklopädie werden, denn nach einem Besuch in besagter Schlucht beschloss Eleni, in Neochóri zu bleiben.
    Noch im hohen Alter erinnerte sie sich an ihren Spaziergang nach Áno Potamiá. Die Vögel zwitscherten so laut, dass sie das Gefühl hatte, sich im Inneren einer Symphonie zu befinden. Der Schotter knirschte trocken und gleichsam ungerührt unter ihren Schuhen, die Sonne schäumte im Tal. Als sie den Fluss erreichte, trank sie von dem kalten Wasser. Es dauerte eine Weile, bis sie den Bus fand, aber kurz vor der Siesta entdeckte sie das pistaziengrüne Blech zwischen den Bäumen. Und fünf Minuten später stand sie der Bewohnerin von Angesicht zu Angesicht gegenüber. »Karmen, bist du das?« »Eleni Vembas«, sagte die Frau im Negligee. »Bist du das?«
    Als Eleni zurückkehrte, erkundigte sich der Briefträger, wie es gelaufen war. »Oh, die Sache hat sich geklärt.« Mehr wollte sie nicht sagen, und Konstantinos nickte, dankbar für ihre Diskretion, erleichtert. Stattdessen erzählte sie ihm von der ehemaligen Tänzerin, die zur »Madame« der Gegend geworden war. Sie war die Tochter eines Kellners in einem berühmten Kaffeehaus in Smyrna und war als Muse der Geschichte aufgetreten, bis Arnold Grigoriwitsch gezwungen wurde, die Stadt zu verlassen. »Karmen sagt, der einzige Weg, die Leere zu füllen, bestehe darin, sich zu nehmen, was zur Hand ist. Männer, Gegenstände, Souvenirs. Wenn sie mit Worten umzugehen wüsste, würde sie bestimmt auch die nehmen.«
    Die Arbeit an dem, was zum ersten Teil des Nachschlagewerks werden sollte, wuchs schneller, als Eleni gedacht hätte, und manchmal beschwerte sie sich darüber, wie klebrig die Früchte des Gedächtnisses sein konnten. Sie erinnerten einen an die chilopítes in ihrem neuen Heimatland: Was immer sie auch anstellte, sie klumpten im kochenden Wasser. Eine Erinnerung haftete an einer zweiten, die wiederum an einer dritten. Mit der Zeit begriff sie, dass ein einzelner Mensch niemals würde bewältigen können, was sie sich vorgenommen hatte – am allerwenigsten eine vierundvierzigjährige Frau, die kürzlich Mutter von vier Kindern geworden war, die sich erst noch daran gewöhnen mussten, sie mána zu nennen. Sie setzte sich mit früheren Freundinnen in Verbindung, und als sie die Frauen um Hilfe bat, zeigten sich mehrere von ihnen willig, Öl in ihr kochendes Hirn zu träufeln. So kam es, dass Eleni Vembas im Herbst 1928 das erste dünne, aber schon bald legendäre Heft der Enzyklopädie der Auslandsgriechen verschicken konnte.
    Anfangs kontrollierte sie ihre eigenen Erinnerungen und die der anderen in Gesprächen mit der früheren Tänzerin, die einige Jahre später in ein Haus am Fluss zog. Im Laufe der Zeit wurden ihre Besuche jedoch seltener. Karamella hatte in jungen Jahren zwar die Muse der Geschichte gespielt, schien sich mittlerweile jedoch damit zufrieden zu geben, sich mit Männern und Dingen zu umgeben. »Wenn du es sagst«, antwortete sie regelmäßig, wenn Eleni einen entfernten Bekannten beschrieb. »Aber jetzt musst du gehen.

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