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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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er das Dorf nicht sich selbst zuliebe verließ. Im Übrigen hatte er niemals Briefe mit D-Mark-Scheinen oder Fotos von Verwandten bekommen, die mit Goldzahnlächeln und schäumendem Putzschwamm in der Hand neben einem Volkswagen standen.
    Warum Bromölla? Das ist leicht zu erklären. Es hatte mit den Geschwistern Kezdoglou zu tun. Aber warum ausgerechnet Efi und Kostas? Das hatte wiederum mit der Schule in Neochóri zu tun. Als die Hasenscharte an einem sonnigen Oktobermorgen 1949 die Tür zum Klassenzimmer öffnete und ebenso schnell wieder schloss, drehten sich die Kinder wie auf Kommando um. Der Sohn des Mannes, der diesseits der Türschwelle zurückgeblieben war, hielt einen Kissenbezug in der Hand. Herr Nehemas lächelte und fragte den Jungen, ob er Jannis Georgiadis heiße. Der Junge lächelte zwar bei jeder Wiederholung der Frage breiter, gab aber selbst beim dritten Mal keine Antwort. »Dann wollen wir mal hoffen, dass ich Recht habe.« Die Kinder kicherten, jemand ließ mit der Hand in der Achselhöhle künstlich einen fahren. »Kannst du mir denn wenigstens sagen, woher du kommst?« Fortgesetztes Schweigen. »Er kommt aus dem Kaff, das sieht man doch.« Das war Dimitris Lekkas. Erneutes Kichern sowie einzelne Pfiffe. »Welches Kaff, wenn ich bitten darf?« Nehemas’ Blick schweifte über die Kinder, weil er nicht mitbekommen hatte, von wem die Worte gekommen waren. »Na, aus Áno Potamiá. Das Ende der Welt, könnte man sagen.«
    Als der Lehrer den Sprecher identifiziert hatte, wandte er sich, diesmal mit den Händen auf dem Rücken, wieder seinem neuen Schüler zu. Ruhig, vielleicht unbewusst, ließ er ein Lineal gegen seine Handfläche klatschen. »Stimmt das? Kommst du aus Áno Potamiá?« Stummes Nicken, mehrere Lacher. »Ruhe im Klassenzimmer! Aha. Du kannst dich da drüben hinsetzen.« Er zeigte auf den Platz. »Dein Pultnachbar Kezdoglou wird nun seinen tapferen Versuch fortsetzen, uns darüber aufzuklären, was an der Tafel steht. Noch sind wir mit der nationalen Erziehung für heute nicht fertig.« Als Jannis durch den Raum ging, konnten alle sehen, dass ihm seine Schuhe mehrere Nummern zu groß waren. Er setzte sich neben den Schüler, der weiterhin stand, seine Hand auf das Pult gelegt hatte und mit heller, aber kraftvoller Stimme verkündete: »Alexander ist ein Held, Potamiá ein Fluss, die Zikade ein Tier. Griechenland ist unser Heimatland, der Tod unausweichlich.«
    Nehemas dankte ihm, woraufhin die Klasse zu Rechenaufgaben überging. Jannis rückte etwas beiseite, als sein Pultnachbar sich setzte und die Ellbogen ausfuhr. Er sah zu, wie Kostas Kezdoglou seine Schiefertafel mit Zeichen füllte, die schrumpften, je näher sie dem rechten Rand kamen, machte selbst jedoch keinerlei Anstalten, eine Tafel auszupacken. Als die Schulstunde vorbei war, bat der Lehrer ihn, noch kurz zu bleiben. An das Lehrerpult gelehnt erklärte er dem Neuankömmling, er werde sich schon zurechtfinden. Er dürfe nichts darauf geben, was die anderen Kinder sagten. Dann teilte er dem Jungen mit, im Lehrerpult befinde sich zufällig noch eine Schiefertafel. Jannis wand sich. »Du sagst nicht viel, mein Freund. Wir wollen hoffen, dass es trotzdem gut gehen wird. Hier.« Nehemas gab ihm die Tafel. »Versuch nach der Pause, es den anderen nachzumachen.« Als er auf die Kreidestücke zeigte, die bei der Tafel lagen, schüttelte der Junge jedoch den Kopf und hielt den Kissenbezug hoch. Der Lehrer nahm an, dass er eigene Kreide besaß.
    Kurz nach zwei schwärmten die Kinder aus dem Schulgebäude ins Freie. Die Hasenscharte stand auf der anderen Seite des Hofs, die Hände auf den Lenker gelegt. Jannis versuchte seinem Pultnachbar zuzuwinken, aber dieser eilte an ein paar Schulkameraden vorbei, die sich gegenseitig in die Seite knufften. Auch am nächsten Tag sagte Kostas nichts – nicht, als Jannis die Schiefertafel anwinkelte und ihm zu zeigen versuchte, was er gezeichnet hatte, nicht, als Jannis ihm frische Feigen und Walnüsse anbot, und auch nicht, als der Schatten des Lehrers auf ihr Pult fiel und er mit der einen Hand das linke Handgelenk des neuen Schülers festhielt, während er ihm mit der anderen einen Schlag auf die Knöchel versetzte. Stattdessen hinkte in der Pause ein Mädchen zu dem Jungen. Die meisten Kinder saßen im Schatten und aßen ihre Pausenbrote, während Nehemas mit einem Blechlöffel und Lebertran von einem Kind zum nächsten marschierte. Alle mussten schlucken, denn nur so würden sie so stark

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