Der letzte Joker
gedacht, dass ich den Tag erleben würde, an dem Fremde in Chimneys wohnen, Miss Bündel!», klagte Mrs Howell.
«Man muss mit der Zeit gehen! Sie werden Glück haben, Howelly, wenn Sie nicht erleben müssen, wie Chi m neys in schicke Wohnungen mit Parkbenutzung verwandelt wird.»
Mrs Howell schauderte.
«Übrigens habe ich Sir Oswald Coote nie gesehen», sagte Bündel.
«Ohne Zweifel ist Sir Oswald Coote ein sehr geschickter Geschäftsmann», antwortete Mrs Howell würdevoll.
Bündel begriff, dass Sir Oswald Coote beim Personal nicht besonders beliebt gewesen war.
«Natürlich war es Mr Bateman, der sich um alles kümmerte», fuhr die Haushälterin fort, «ein sehr tüchtiger junger Herr. Er kannte sich aus.»
Bündel führte das Gespräch auf Gerald Wades Tod. Mrs Howell war nur zu gern bereit, darüber zu sprechen, und voller Mitleidsbezeugungen für den armen jungen Herrn, aber Neues erfuhr Bündel nicht. Sie verabschiedete sich, ging nach unten und läutete nach Tredwell.
«Tredwell, wann hat Alfred uns verlassen?»
«Vor etwa einem Monat, M’lady.»
«Aus welchem Grund?»
«Es war sein eigener Wunsch. Er soll jetzt in London arbeiten. Ich war sehr zufrieden mit ihm, in jeder Beziehung. John, sein Nachfolger, wird Ihnen sicher gefallen. Er scheint sich in seinem Beruf auszukennen und gibt sich die größte Mühe.»
«Woher kommt er?»
«Er hatte ausgezeichnete Referenzen. Zuletzt war er bei Lord Mount Vernon.»
Bündel erinnerte sich, dass Lord Mount Vernon zurzeit auf Großwildjagd in Ostafrika war. «Wie heißt er mit Nachnamen, Tredwell?»
«Bower, M’lady.»
Tredwell wartete noch ein oder zwei Minuten und verließ dann, als er sah, dass Bündel keine Fragen mehr stellen wollte, leise das Zimmer. Bündel blieb in Gedanken versunken zurück.
John hatte ihr bei ihrer Ankunft die Tür geöffnet, und sie hatte ihn genau beobachtet, ohne es sich anmerken zu lassen. Offenbar war er ein perfekter Diener, erfahren, mit ausdruckslosem Gesicht.
Aber diese Einzelheiten, fand sie, hatten nichts weiter zu bedeuten. Stirnrunzelnd saß sie vor dem Bogen Löschpapier, der vor ihr lag. Sie hielt einen Bleistift in der Hand und malte immer wieder den Namen Bower aufs Papier. Plötzlich fiel ihr etwas ein, sie hielt inne und starrte auf das Wort. Dann läutete sie noch einmal nach Tredwell.
«Tredwell, wie buchstabiert man Bower?»
«B – a – u – e – r, M’lady.»
«Das ist kein englischer Name!»
«Ich glaube, er stammt aus der Schweiz.»
«Ach so! Das war’s, Tredwell, vielen Dank.»
Aus der Schweiz? Vielleicht aus Deutschland! Und er war vierzehn. Tage vor Gerry Wades Tod nach Chimneys gekommen!
Bündel stand auf. Hier hatte sie erledigt, was sie erledigen konnte. Sie machte sich auf die Suche nach ihrem Vater. «Ich fahre wieder», sagte sie. «Ich möchte Tante Marcia besuchen.»
«Marcia?» Lord Caterhams Stimme war voll Erstaunen. «Armes Kind, wie bist du denn darauf gekommen?»
«Nur so, ganz freiwillig.»
Lord Caterham sah sie verblüfft an. Dass irgendjemand den Wunsch verspürte, seine entsetzliche Schwägerin zu besuchen, erschien ihm kaum glaubhaft. Marcia, Marquise Caterham, die Witwe seines verstorbenen Bruders Henry, war eine sehr prominente Persönlichkeit. Lord Caterham musste zugeben, dass sie Henry eine bewundernswürdige Frau gewesen war und er es ohne sie sicherlich nicht zum Außenminister gebracht hätte. Andererseits hatte er Henrys frühes Hinscheiden immer als gnädige Erlösung betrachtet. Ihm schien, als wagte Bündel sich leichtsinnig in die Höhle des Löwen.
«Womit verdient Sir Oswald Coote sein Geld?», fragte Bündel da.
«Er besitzt die größten Stahlwerke von ganz England. Natürlich schafft er das heute nicht mehr allein, es ist eine Aktiengesellschaft. Mich hat er zum Direktor oder so was ernannt. Das ist ein gutes Geschäft – nichts zu tun, als ein- oder zweimal im Jahr nach London in irgendein Hotel zu fahren und an einem Tisch zu sitzen, auf dem lauter schönes neues Löschpapier liegt. Dann hält Coote oder irgendein anderer cleverer Kerl eine Rede, in der es nur so von Zahlen wimmelt, aber man muss glücklicherweise nicht zuhören. Und ich kann dir sagen – meistens springt ein fantastisches Essen dabei raus.»
Da das Essen Bündel nicht besonders interessierte, war sie verschwunden, bevor Lord Caterham ganz ausgeredet hatte. Auf dem Weg nach London versuchte sie, die verschiedenen Einzelstücke zu einem befriedigenden Ganzen
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