Der letzte Kuss
wie ihr Kind litt, hatte ihr Vater die Lüge aufrecht erhalten, dass er sie beide verlassen hatte. »Warum?«
Er stöhnte laut auf. »Zuerst geschah es aus Liebe und aus Rücksicht auf die Wünsche deiner Mutter. Sie hatte solche Angst, dich zu verlieren, dass ich einfach annehmen musste, dass sie dich mehr brauchte als mich. Wie aber sollte ich das alles einem kleinen Mädchen erklären?«
»Und später dann?«
»Da warst du zu einem zornigen Teenager geworden.« Er legte die Hand um seinen Nacken, schüttelte den Kopf und fing an, sich zu massieren. »Wenn ich nach Hause kam, hast du dich noch nicht einmal mit mir zivilisiert über das Wetter
unterhalten. Dann bist du aufs College gegangen, später nach New York gezogen. Zu der Zeit warst du alt genug, um deine Heimreisen so zu planen, dass sie nicht mit meinen zusammentrafen.«
Da hatte er absolut Recht. Das musste sie schuldbewusst und voll plötzlicher Traurigkeit zugeben. Vielleicht gab es ja genug Schuld, sodass es für alle drei reichte, überlegte sie.
»Ich nehme an, ich habe mich nicht genug angestrengt.«
Charlotte atmete hörbar aus. »Und ich habe mir überhaupt keine Mühe gegeben.« Dieses Eingeständnis kam ihr nicht leicht über die Lippen.
»Es ist meine Schuld, aber es gibt eine Erklärung dafür. Ich versuche nicht, die Verantwortung abzuschieben, aber sieh mal …« Mit zitternden Händen griff Annie nach ihrer Handtasche und zog eine kleine Phiole mit Medizin heraus. »Dr. Fallon sagt, es höre sich so an, als hätte ich eine schwere Depression gehabt.«
War Charlotte nicht deshalb an den Arzt herangetreten, weil sie genau so etwas geahnt hatte?
Annie versuchte, Tränen wegzublinzeln. »Wahrscheinlich hätte ich diese Tropfen schon früher nehmen sollen, aber mir war nicht bewusst, dass ich Hilfe brauchte. Dein Vater hat gesagt … er hat gesagt, Dr. Fallon hätte mit dir gesprochen und du wärest der Ansicht, es gäbe eventuell ein Problem. Ich wusste das nicht. Ich dachte, ich müsste so fühlen, wie ich das tat. Ich dachte, es wäre normal. Ich meine, ich habe immer so gefühlt.« Ihr brach die Stimme, aber sie fuhr fort: »Und ich konnte nicht ertragen, dich zu verlieren. Ich weiß, dass ich dir Schmerz zugefügt habe wegen meiner … Krankheit, und es tut mir Leid.« Annie drückte Charlotte fest an sich. »Es tut mir unendlich Leid.«
Ihre Mutter fühlte sich an wie ihre Mutter – warm und
weich und tröstlich. Dabei hatte Annie schon immer etwas Verletzliches an sich gehabt. Charlotte fiel jetzt auf, dass sie ihr oft genug so zerbrechlich erschienen war. Der Job als Bibliothekarin war auch deshalb so perfekt für sie, weil dort Stille herrschte oder nur geflüstert wurde.
»Ich bin nicht böse auf dich, Mama.« Sie war nur aus dem Gleichgewicht geraten und verwirrt. Der Kloß in ihrem Hals war so groß, dass er schmerzte, und sie war sich nicht sicher, wie sie die Wahrheit verarbeiten sollte.
Im Rückblick ergab so vieles einen Sinn, aber erst kürzlich war ihr bewusst geworden, dass es ein viel ernsteres Problem gab. Sie hatte eine Ahnung, dass Annie nicht nur an einer leichten Depression litt, sondern an einer schweren Psychose. Warum sonst sollte jemand die Rollläden und die Fenster geschlossen halten und Einsamkeit jeder Gesellschaft vorziehen, sogar der des geliebten Mannes?
Warum hatte keiner diese Anzeichen erkannt? Vielleicht waren einfach alle zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dachte Charlotte traurig.
»Ich denke, wir sollten dich jetzt allein lassen, damit du über alles nachdenken kannst«, sagte ihr Vater in ihr Schweigen hinein. Er nahm die Hand ihrer Mutter. »Annie?«
Sie nickte. »Ich komme«, sagte sie und blickte dann ihre Tochter an. »Und nochmals, verzeih mir.«
Sie gingen gemeinsam zur Tür, und Charlotte ließ sie ziehen.
Sie hoffte und betete, dass sich mit der Wahrheit auch Verstehen und Friede einstellen würden. Doch das brauchte Zeit. Sie musste erst begreifen, was sie gerade gehört hatte, und erkennen, was sie jetzt fühlte. Wie sie sich fühlen würde, wenn die Benommenheit sich gab.
Stunden später legte sie sich in ihr Bett, ließ aber die
Rollläden auf, damit sie in den tintenblauen Nachthimmel starren konnte. Sie war zu aufgeregt, um zu schlafen, und hoffte, dass sie sich beim Zählen der Sterne entspannen würde. Allerdings rasten ihr die Gedanken wie wild durch den Kopf. Von wegen sich einer Illusion hingeben, dachte sie. Dem Vater, der sich ihrer Meinung nach
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