Der letzte Kuss
den Tisch zu, an dem Beth auf sie wartete.
Er stöhnte und drehte sich wieder zu dem Exekutionskommando um, das er seine Geschwister nannte.
»Es sieht so aus, als würde sie es dir nicht leicht machen, kleiner Bruder.«
War das nicht schon immer so gewesen?
Chase lachte. »Ich wette, du bist nicht gewohnt, ignoriert zu werden. Das muss fürs Selbstbewusstsein die Hölle sein.«
»Halt verdammt noch mal den Mund«, murmelte Roman. Er hatte den einen Abend auf der High-School nicht vergessen. Obwohl er immer Charlotte für diejenige gehalten hatte, von der die Trennung ausging, hatte er sich nie vergewissert, was wirklich der Grund dafür war. Das lag nicht daran, dass er Angst vor der Anstrengung oder selbst vor einer weiteren Zurückweisung hatte. Immer hatte er die Neigung verspürt, hinter ihr her zu sein; er hatte nur nie die Zeit dazu gefunden.
Das hatte sich nun geändert. Da er jetzt für länger hier blieb, gab er sich nicht mehr damit zufrieden, dass sie ihn absichtlich ignorierte. Die Zeit war gekommen, das Problem gezielt anzugehen.
Roman war zurückgekehrt. Charlotte drehte sich der Magen um; Fassungslosigkeit und Schock durchfuhren sie. Ihr anfänglicher Blick aus dem Schaufenster und ein Gefühl, das sie zu ignorieren versuchte, hatten sie nicht auf die Wirkung vorbereitet, die sein Anblick auf sie haben würde.
Verflucht sei der Mann. Niemand auf Gottes Erdenrund hatte die Fähigkeit, sie derartig zu berühren wie er. Ein Blick, und sie fühlte sich von Kopf bis Fuß wie ein hormongesteuerter Teenager.
Die Zeit hatte sich auf sein gutes Aussehen ausgewirkt – im positiven Sinne. Die Jahre hatten ihn in unglaublicher Weise gezeichnet. Sein Gesicht war schmaler, schärfer geschnitten, und seine Augen waren – wenn das überhaupt möglich war – von einem noch tieferen Blau. Sie schüttelte den Kopf. Eigentlich war sie viel zu weit entfernt gewesen, um das behaupten zu können – zunächst hatte sie an der Restauranttür gestanden, um ihn mit Beth allein zu lassen, dann hatte sie wegen ihrer schwitzigen
Hände und aus Angst, die Fassung zu verlieren, sich nicht genähert.
Charlotte war sich aber darüber im Klaren, dass sich eines nicht geändert haben konnte: sein Reporterinstinkt. Er sah nicht nur alles, er analysierte auch alles. Und sie wollte nicht von ihm analysiert werden.
»Deine Hände zittern ja«, bemerkte Beth.
Charlotte nahm noch einen kräftigen Schluck von dem Selterwasser, das ihre Freundin für sie bestellt hatte. »Das kommt vom Koffein.«
»Ich glaube, eher von einem Überschuss an Testosteron.«
Irgendwie brachte Charlotte es fertig, ihr Getränk nicht in das grinsende Gesicht gegenüber zu prusten. »Du meinst Hormonüberschuss?«
»Was auch immer. Der Tisch voll scharfem männlichen Fleisch regt dich total auf.« Sie deutete mit einer Handbewegung auf die Ecke, die die Chandler-Brüder eingenommen hatten.
»Zeig nicht so dorthin«, sagte Charlotte.
»Warum nicht? Alle andern hier im Restaurant starren sie doch auch an.«
»Das stimmt«, gab Charlotte zu, merkte aber gleich, dass sie die Gelegenheit verspielt hatte, behaupten zu können, sie hätte sie gar nicht gesehen. Sie hatte geplant, die Brüder zu ignorieren. Wenigstens so lange, bis sie etwas gegessen und ihre Abwehrkräfte gestärkt hatte gegen Romans verunsichernde Wirkung.
Seufzend legte sie ihre feuchten Hände übereinander. »Aber nicht ich. Ich bin immun.«
»Das warst du schon immer. Oder du hast es jedenfalls vorgetäuscht«, bemerkte Beth mit einer Weisheit, die ihr in jungen Jahren gefehlt hatte. »Nicht, dass ich das im geringsten
verstehen kann.« Sie schüttelte den Kopf. »Damals schon nicht und überhaupt niemals.«
Noch nie hatte Charlotte ihrer besten Freundin erzählt, warum sie in Wahrheit Roman zurückgewiesen hatte. Auf der High-School hatte sie ihre Abwehr meterhoch aufgetürmt, worauf Roman nach ihrer Zurückweisung in Beths offene Arme gestürzt war. Trotz Schmerz und Eifersucht hatte Charlotte ihre Freundin ermutigt, indem sie vorgab, immun zu sein, wie Beth es eben gerade beschrieben hatte. Dann hatten sie ihr Abitur und Roman hatte sich auf und davon gemacht.
Charlotte hatte nie gefragt, wie ernst ihre Beziehung gewesen war. Oft hatte sie sich eingeredet, sie habe es aus Respekt vor Beth Privatsphäre unterlassen, aber die Wahrheit war viel egoistischer. Sie hatte es nicht wissen wollen. Und – anders als beim Thema Schönheitsoperation – Beth war in Hinsicht
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