Der letzte Kuss
Morgen ist Dr. Fallon wieder in der Praxis. Falls Sie bis dahin irgendwelche Probleme haben, rufen Sie mich ohne zu zögern an.«
»Ja, mach’ ich«, antwortete Raina.
»Was ist jetzt also los mit dir?« Rick, das mittlere Kind, das keiner jemals hatte ignorieren können, stürmte durch den geschlossenen Vorhang, Chase auf seinen Fersen. Ricks unverfrorene Art spiegelte den Charakter seiner Mutter wieder. Seine haselnussbraunen Augen glichen ihren, ebenso die dunkelbraunen Haare, ehe ihr Friseur sie in die Hände bekommen und ihr nun fast graues Haar in honigblondes verwandelt hatte.
Roman und Chase, die Buchstützen, standen mit ihren pechschwarzen Haaren und strahlendblauen Augen ganz im Gegensatz dazu. Beide, ihr Ältester und ihr Jüngster, waren
dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Ihre imposante Gestalt und das dunkle Haar erinnerten sie stets an John. Vom Charakter her waren sie allerdings einmalig und mit keinem zu vergleichen.
Chase stand vor seinem aufgeregten Bruder und sah der Ärztin direkt ins Gesicht: »Was ist los?«
»Ich glaube, Ihre Mutter möchte Ihnen das selbst erklären«, sagte Dr. Gaines und verschwand durch den schrecklich kunterbunten Vorhang.
Zugunsten der guten Absicht setzte sich Raina über ihr schlechtes Gewissen hinweg und kämpfte mit den Tränen, während sie sich einredete, die Drei würden ihr am Ende dankbar sein. Dann legte sie eine zittrige Hand auf ihr Herz. Und erklärte ihren Söhnen ihren angegriffenen Gesundheitszustand und ihren einzigen Herzenswunsch.
Kapitel eins
Roman Chandler starrte auf seinen ältesten Bruder, oder genauer gesagt auf die Vierteldollarmünze in dessen rechter Hand. Sofort nach dem Anruf, der ihn von den Herzproblemen seiner Mutter in Kenntnis gesetzt hatte, stieg er ins nächste Flugzeug von London nach New York. Dort musste er einen Anschlussflug nach Albany nehmen und dann einen Leihwagen, um die eine Stunde in seinen Heimatort Yorkshire Falls zu fahren, eben außerhalb von Saratoga Springs, New York. Er war so müde, dass ihm vor lauter Erschöpfung die Knochen weh taten.
Jetzt kam zu all seinen Problemen auch noch dieser Stress hinzu. Wegen des Herzleidens seiner Mutter würde einer der Chandlerbrüder seine Freiheit opfern müssen – um Raina ein Enkelkind zu bescheren. Welcher der Brüder diese Last auf sich nehmen sollte, wollten sie mit einer Münze entscheiden, woran aber nur Rick und Roman beteiligt waren. Chase hatte bereits seine Pflicht und Schuldigkeit der Familie gegenüber getan, als er das College aufgab, um die Zeitung weiterzuführen und seiner Mutter zu helfen, die jüngeren Brüder großzuziehen. Deshalb sollte er jetzt nicht mitmachen – obwohl er zunächst darauf bestand. Weil er absolute Gleichberechtigung verlangte. Aber Rick und Roman hatten durchgesetzt, dass er an der Auslosung nicht teilnehmen durfte.
Statt dessen sollte er den Scharfrichter spielen.
»Also, dann sagt schon was. Kopf oder Zahl«, forderte Chase sie auf.
Roman blickte zur ungestrichenen Decke hoch, zum ersten Stockwerk des Hauses, in dem er seine Kindheit verbracht hatte und wo sich seine Mutter gerade auf Geheiß des Arztes ausruhte. Sie standen indessen auf dem staubigen Lehmboden der Garage, die an das Wohnhaus angebaut war, und mussten sich entscheiden. Dieselbe Garage, in der sie als Kinder ihre Bälle und Fahrräder aufbewahrt hatten und in die Roman Bier geschmuggelt hatte, wenn er seine älteren Brüder nicht in der Nähe wähnte. Dasselbe Haus, in dem sie aufgewachsen waren und an dem ihre Mutter festhielt, was sie sich leisten konnte, da Chase hart arbeitete und bei der Zeitung Erfolg hatte.
»Nun los, Jungs, einer muss anfangen«, sagte Chase in ihr Schweigen hinein.
»Du brauchst nicht so zu tun, als würde dir das hier Spaß machen«, murmelte Rick.
»Du glaubst also, dass es mir Spaß macht?« Chase drehte die Münze zwischen seinen Fingern, und seine Lippen zitterten vor Enttäuschung. »Das ist großer Blödsinn. Todsicher möchte ich nicht mit ansehen müssen, wie einer von euch beiden das Leben aufgeben muss, das er gewählt hat – nur einer Laune wegen.«
Roman war sich sicher, dass Chase das Ganze deshalb so mitnahm, weil er selbst seinen eigenen Lebensweg nicht hatte bestimmen können. Er war über Nacht mit der Doppelrolle des Verlegers und des Erziehungsberechtigten belastet worden. Als ihr Vater starb, fühlte sich Chase verpflichtet, den Platz des Familienoberhauptes einzunehmen – mit seinen
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