Der letzte Kuss
sich schließlich auf eines einigen, nachdem Annie alle widerstrebend anprobiert hatte. »Das steht dir großartig. Zusammen mit der veränderten Frisur und dem neuen Make-up betont dieses Kleid das Grün in deinen Augen.«
»Ich verstehe gar nicht, warum dir das heute Abend so wichtig ist.«
»Außer der Tatsache, dass es sich um die jährliche Wohltätigkeitsveranstaltung für ›Little League‹ handelt? Weil es wichtig ist, mal aus dem Haus zu kommen. He, vielleicht läufst du ja Dennis Sterling in die Arme. Ich bin ganz sicher, dass er interessiert ist, Mama. Er hängt öfter in der Bibliothek rum, als es selbst ein Tierarzt nötig hat.«
Annie zuckte die Schultern. »Ich gehe nicht mit anderen Männern aus. Ich bin verheiratet, Charlotte.«
Charlotte zog frustriert die Luft ein. »Mama, findest du es nicht an der Zeit, dich endlich nach vorn zu bewegen? Nur ein kleines Stück? Und selbst, wenn du anders denkst, was wäre so schlimm daran, einen Versuch zu starten? Vielleicht macht es dir sogar Spaß.« Falls Russell sich herablassen
würde aufzukreuzen, was immer wieder geschah, würde es dem Mann ganz gut tun, zu sehen, dass ihre Mutter nicht nur herumsaß und auf seinen großen Auftritt wartete.
»Er liebt mich. Dich liebt er auch. Wenn du ihm eine Chance geben würdest …«
»Eine Chance, was zu tun? Nach Hause zu kommen, um in einem Atemzug Hallo und Auf Wiedersehen zu sagen?«
Annie hielt die Kleider dicht an sich gepresst, als ob die Stoffschichten sie vor Charlottes Worten hätten schützen können.
Charlotte zuckte zusammen. Sie musste gar nicht sehen, wie ihre Mutter zurückwich, um zu erkennen, dass sie zu hart gewesen war. Sobald sie die Worte ausgesprochen hatte, bereute sie ihre schroffe Bemerkung und ihren scharfen Ton. Beschwichtigend legte sie ihrer Mutter die Hand auf den Arm, brachte aber kein Wort heraus.
Annie brach zuerst das Schweigen. »Man kann seine Liebe auf unterschiedliche Weise ausdrücken, Charlotte.«
Ihr Vater zeigte seinen Mangel an Gefühl mit jeder erneuten Abreise. »Mama, ich will dich nicht verletzen und ich will mich nicht streiten.« Wie oft hatte sie schon eine ähnliche Version dieses Gesprächs mit ihrer Mutter hinter sich gebracht? Sie hatte den Überblick verloren. Aber jedes Mal, wenn sie glaubte, kurz vor einem Durchbruch zu stehen, würde ihr treuloser Vater wieder angetanzt kommen. Als hätte der Mann Radar, dachte Charlotte. Offensichtlich wollte er Annie nicht, aber er wollte auch nicht, dass sie über ihn hinwegkam. Infolgedessen verbrachte ihre Mutter ihr Leben in einem Schwebezustand. Aber so war es nun einmal, rief Charlotte sich ins Gedächtnis. Deshalb mussten ihre eigenen Entscheidungen das eindeutige Gegenteil von denen ihrer Mutter sein.
Annie, die alles bis auf die Worte ihrer Tochter zu würdigen wusste, hielt das Kleid vor sich und gab Charlotte erneut die Gelegenheit, ihre Mutter prüfend zu betrachten. Die Farbe der neuen Frisur verdeckte das Grau, und das Make-up ließ ihre Gesichtszüge aufleuchten. Sie sah zehn Jahre jünger aus.
»Warum starrst du mich so an?«
»Du bist … schön.« Das war ein Adjektiv, das Charlotte gewöhnlich nicht benutzte, um ihre Mutter zu beschreiben. Vielleicht auch nur deshalb nicht, weil Annie sich äußerst selten um ihr Aussehen bemühte.
Jetzt aber musste Charlotte bei ihrem Anblick an das Hochzeitsfoto auf der Frisierkommode ihrer Mutter denken. Russells und Annies Hochzeitsfeier war nicht aufwendig gewesen, aber ihre Mutter hatte doch eine traditionelle weiße Robe getragen – und bei der Glut der Jugend und der Liebe hatte sie nicht nur einfach schön gewirkt. Sie hatte bezaubernd ausgesehen. Sie musste wahnsinnig glücklich gewesen sein, wie man an dem Leuchten ihrer Wangen und dem Glanz in ihren Augen erkennen konnte. Sie könnte wieder glücklich sein, dachte Charlotte. Aber sie bemühte sich nicht, und genau das machte die Situation so frustrierend.
Charlotte machte ihrer Mutter Vorwürfe, weil sie jede Hilfe ablehnte, und ihrem Vater, weil er immer wieder verschwand. Aber Annie war die zerbrechlichere von beiden. Charlotte liebte ihre Mutter. Sie berührte deren Haar. »Du bist wirklich schön, Mama.«
Annie winkte ab, streckte dann aber zu Charlottes Erstaunen die Hand nach ihr aus und berührte ihre Wange. »Auch du bist schön, Charlotte. Innerlich und äußerlich.«
Es war eine Seltenheit, dass Annie lange genug aus ihrem Nebel auftauchte, um die Welt um sich herum
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