Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
angewurzelt stehen, auch als sie ihm das Heu hinhielt. Seine Augen weiteten sich, die Nüstern blähten sich, aber es blieb auf seinem Platz stehen.
»Herrgott. Dann eben nicht«, knurrte Lies und ließ den Haufen unterhalb der Tür in den Mist fallen. Schritt für Schritt kam das weiße Pferd näher, ohne sie aus den Augen zu lassen, und bediente sich vorsichtig an dem Heu, immer noch wachsam, und Lies störte es nicht weiter. Da schnaubte es schließlich zufrieden, als wollte es sagen – endlich hast du kapiert.
Nachdenklich blieb Lies an der Tür stehen und betrachtete den Stall, der dämmrig vor ihr lag.
Alles schien mit einem Mal so einfach.
Hunger – Essen – Ruhe. Kein Wenn, kein Aber, keine Beschwerde. Keine Aktennotiz. Kein Wartekörbchen, keine Ablage. Einfach... zufrieden. Wo gab’s das mal?
Das Malmen der Pferdezähne ergänzte sich gut mit dem Kauen der Schafe und den Geräuschen des Stalles. Knackende Balken, Knistern, Rascheln. Schnauben, Schmatzen, leises Meckern, helles Meckern, leichter Geruch von Schafsmilch. Nickende weiße Wollköpfe. Schritte, obwohl sie allein war. Wind, der ums Haus heulte, am Blechdach rüttelte. Der schnarchende Hund auf seinem Wollhaufen. Sie drehte sich um und betrachtete den Stall.
Obwohl sie erst seit ein paar Stunden hier war, kam es ihr so vor, als wäre ihr jedes einzelne Geräusch vertraut.
Draußen hatte sich die Sonne hervorgewagt. Nur noch wenige Schneeflocken tanzten durch die klirrend kalte Luft, und ein winziges bisschen roch es nach Frühling. Einbildung? Lies stopfte die Fäuste in die Jackentasche und ging auf das Wohnhaus zu. Hinter ihr bellte entrüstet der Hund, den sie im Stall vergessen hatte. Jói schien weggefahren zu sein, denn es stand kein Auto mehr vor der Tür. Sie fühlte heftiges Bedauern in sich aufwallen. Er war jemand zum Reden gewesen, und er hatte deutsch gesprochen. Und nett war er auch gewesen.
Warum war er weggefahren? Nun, warum nicht. Sie blieb stehen, seufzte.
Warum auch nicht.
Am Rande der Klippen, die sich rechts und links des Gletscherflusses erhoben, bewegte sich gemächlich eine kleine gebückte Gestalt. Elías. Es konnte nur Elías sein. Lies kniff die Augen zusammen. Irgendwas trug er auf dem Rücken, einen Korb – das sah nach einem langen Spaziergang aus. Sie nahm die Hände aus den Taschen und straffte den Rücken.
Elías war fortgegangen. Zeit genug, sich irgendwas Essbares zu suchen – Essen! Der Hunger nahm nämlich gefährlich überhand …
Sie beschleunigte ihre Schritte, wollte die Haustür aufdrücken, als sie einen Zettel in einer Holzritze fand. Eine Visitenkarte.
Jóhann Magnússon, Dýralæknir stand da zu lesen, und eine Mobilnummer. Jóhann Magnússon – Tierarzt.
Ein kleines, glückliches Lächeln glitt über ihr Gesicht. Er hatte sie nicht vergessen! Die Karte war wie ein Ruf aus der bewohnten Welt, wie eine Blume in der Einsamkeit, ein Feuer in der Arktis. Jói hatte sie nicht vergessen, als er weggefahren war, er hatte an sie gedacht, und erst jetzt wurde ihr richtig bewusst, wie gut der Besuch ihr getan hatte. Er hatte an sie gedacht! Hastig kramte sie ihr Handy aus der Jackentasche, der Finger fuhr liebevoll über die vertrauten Tasten, um die Nummer sofort ins Telefonbuch einzutragen – doch sie erstarrte.
Das Display war leer. Kein Empfang.
Nicht der Hauch von Empfang.
Hektisch marschierte sie vor dem Haus hin und her, loggte sich erneut ein, hielt das Handy in den Wind, in alle Richtungen und über ihren Kopf, rannte ums Haus herum, probierte, schüttelte es, »verflucht, beweg dich, mach schon« – nichts. ›Netzsuche‹ war alles, was das ratlose Display zu bieten hatte. In einem Anfall von verzweifelter Wut schleuderte Lies das Handy weit von sich, und es fiel wie ein nutzloser Stein irgendwo hinter dem Traktor in den Schnee.
Hinter den Bergen bei den sieben Zwergen begraben – und kein Netzempfang. Und bei Elías hatte sie noch nirgendwo ein Telefon entdeckt, weder auf dem Tisch noch an der Wand.
Der hatte kein Telefon?!
Türenknallend rannte Lies ins Haus, mit schmutzigen Schuhen durch die Diele, in die Küche, wieder raus, den Flur entlang – der hatte kein Telefon! Das gab’s doch nicht. Warum hatte sie gestern nicht dran gedacht, zu gucken, zu fragen, gleich am ersten Abend? Das gab’s doch nicht, sie saß hier mitten in Islands Einöde fest ohne Telefon?!?
Es war, als ob eine kalte Hand nach ihr griff, ihr Hals zog sich zusammen. Die Berge wuchsen von
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