Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
draußen ins Haus hinein und drückten ihr die Luft ab. Sie eilte von Raum zu Raum, und das Geräusch der Türen warf ein unheimliches Echo durch den dunklen Flur, der immer länger zu werden schien. Ein Echo, weil sich hinter den Türen nichts als leere, unbewohnte, kahle Räume befanden, mit wenig oder gar keinem Mobiliar, dafür mit düsteren Vorhängen, und die frühere gute Stube war sogar verriegelt und enthielt außer einem Sofa keine Möbel, keinen Schrank oder Tisch, keine Bilder, Fotos, keine Geschichte... und keinen Telefonapparat.
Keuchend lehnte sie sich gegen die muffige Wand im Flur. Ein Geisterhaus, leblos, tot. Und sie mittendrin, ohne Kontakt zur Außenwelt. Was für eine Scheißidee, hierherzukommen. Was für eine gottverdammte Scheißidee.
In Elías’ Schlafzimmer schließlich stieß sie auf die Kühle einer Leichenkammer. Da dieser Raum ihre letzte Hoffnung war, trat sie vorsichtig näher. Ein alter Mann ohne Telefon, das gab’s nicht, das gab’s einfach nicht, das konnte nicht sein, nicht mal im Film gab es so etwas. Jói hatte erwähnt, dass der Alte krank war – da musste er doch ein Telefon haben! Sie schaute sich um. Das Zimmer war düster und kalt, weil es keinen Heizkörper gab. Dafür fand Lies eine vergilbte gelbe Tapete vor, einen laut tickenden Wecker, ein ordentlich abgedecktes Bett, eine Truhe, auf der ein löchriger Pullover und die Hose von gestern zum Lüften lagen. Obwohl Neugier sie peinigte, wagte sie nicht, irgendwas anzufassen – es war nämlich, als ob Elías hinter ihr stünde und jeden ihrer Schritte misstrauisch überwachte. Was hatte sie auch in seinem Zimmer zu suchen. Sein Kopfkissen war flach und spartanisch. Die gehäkelte Überdecke warf nicht eine einzige Falte. Sie stellte sich vor, wie der Alte sie morgens glättete und mit seinen knochigen Händen drüberstrich, wieder und wieder …
Der Wecker lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich. Ein Uraltmodell von Anno Tobak, der so aufdringlich wie eine Lebenszeituhr tickte... Tod-und-Leben-Tod-und-Leben-Tod … Daneben lag ein Ring. Ein Ehering. Breit und goldschimmernd, als hätte er niemals auf einem Finger gesessen. Sie konnte nicht anders – sie musste ihn anfassen. Elskamín Anna Bryndís Gustavsdottir stand ringsum an der Innenseite zu lesen, und ein Datum. 1.8.1947. Elskamín Anna Bryndís. Elskamín hieß ›mein Liebling‹.
Lies spürte, wie ihre Wangen rot anliefen. Hastig legte sie den Ring wieder auf die Stelle neben dem Wecker. Anna Bryndís. Eindringling. Das hier ging sie nichts an – gar nichts. Schritt für Schritt entfernte sie sich von dem Bett. Und zog leise und mit klopfendem Herzen die Schlafzimmertür hinter sich zu.
Die Speisekammer, die sie auf ihrem Durchsuchungszug nach einem Telefon hinter der Küche fand, war auch ein Fall für sich – Lies fragte sich allen Ernstes, wovon Elías eigentlich so lebte – und wovon sie hier leben sollte. Auf dem Regal eine Dose Backpulver, zwei Pakete Salz, vier Pakete Zucker, ein paar Gläser Marmelade, ein paar Backutensilien, Reis. Daneben fand sie in einer Pappschachtel Schokoriegel mit dem Namen » Draumur «. Traum. Schokotraum, hmmmm... Da sie nicht wusste, ob die abgezählt waren, wagte sie nicht, einen zu probieren, obwohl sie schon sehr lockten, zumal ihre eigenen Schokoladenvorräte nicht lange vorhalten würden. Ein großer Topf amerikanische Melasse, auf dem Boden ein Sack Mehl, und in der Ecke ein für Gunnarsstaðir erstaunlich modernes Gerät: eine Brotbackmaschine, die offenbar des Nachts das tägliche Brot herstellte. In der Ecke gab es eine große Kühltruhe, daneben eine weitere Kiste mit Kartoffeln, auf dem Tisch standen sieben Gläser mit eingeweckten Kirschen.
Deutsche Schattenmorellen von Aldi. Wo er die wohl herhatte? Grinsend nahm sie eins davon in die Hand – das Mindesthaltbarkeitsdatum war am 11.12.1998 abgelaufen. Sicher waren sie ein Geschenk gewesen, passten aber nicht in Elías’ Speiseplan und waren daher in der langen Zeit bestimmt zu Schnapskirschen vergoren. Ein Telefon indes gab es auch in der Speisekammer nicht.
Ihr Handy hatte der Schnee verschluckt. Trotz gewissenhaften Suchens rund um den Traktor fand sie es nicht. Vielleicht gab es ja auch Trolle hier, die Elías angestellt hatte, um sie zu ärgern. Sie hatten ihr Handy gestohlen und das Telefon abmontiert. Resigniert gab sie die Suche auf und schlich zurück ins Haus, zog brav die Schuhe aus und holte sich eine Fleecejacke aus dem Schrank, denn die
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