Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
neuentdeckte Einsamkeit ließ sie noch mehr frieren.
Frustriert und zusammengekauert hockte sie sich an den Küchentisch, goss sich eine Tasse schwarzen Kaffee ein und nagte an einer harten Scheibe Brot vom Morgen. Sich Fleisch aus der Schale zu nehmen, dazu konnte sie sich kein zweites Mal überwinden. An den Kanten trocknete es bereits, und ölige Schlieren überzogen die Fasern.
Der Schreibtisch im Finanzamt kam ihr in den Sinn. Der Kuliständer, Stempel, die Aktenstapel, Regale voller Ordner. Wohlsortiert, wohlgeordnet. Man kam morgens und wusste, was der Tag bringen würde. Und hier?
»Was tu ich hier?«, fragte sie gegen die Stille an, um wenigstens ihre eigene Stimme zu hören. »Was tu ich hier, was will ich hier?«
Die Stille antwortete nicht. Was sollte sie auch sagen – es war schließlich Lies’ Idee gewesen, nach Island zu kommen. Nun war sie hier, was gab es da zu sagen. Die Küchenuhr tickte umso lauter. Schlürfend trank Lies von der Kaffeebrühe. Ekelhaft, so ohne Milch. Weil sie keine Lust hatte, in dem widerlichen Kühlschrank nachzuschauen, ob es Milch gab, löffelte sie wie Elías Zucker aus der Porzellandose in die Tasse. Das Klirren des Löffels war immerhin ein Geräusch. Mit Zucker schmeckte der Kaffee auch ekelhaft.
»Was zum Teufel tu ich hier«, brummte sie, immer schlechter gelaunt, und nahm einen großen Schluck von dem Gebräu. Die Küchenuhr lachte leise. Hier-blei-ben , flüsterte sie, hier-blei-ben.
»Nein!«, schrie Lies auf.
Hier-blei-ben, hier-blei-ben, hier-blei-ben …
Die Haustür klapperte, brummend trat Elías ein. Schuhe knallten gegen die Wand, mit leisem Stöhnen pellte er sich aus seiner Jacke. Lies sah neugierig aus der Küche, froh über Leben im Haus, das die blöde Uhr verstummen ließ. Doch der Alte guckte nicht mal hoch. Etwas mühsam schleppte er einen Korb um die Ecke, der voller dicker Gänseeier war. Er schlurfte an ihr vorbei, streifte sie beinahe und zog den Korb hinter sich her, zur Speisekammer, wo er unter den Tisch mit den Kirschgläsern geschoben wurde. Zurück kam Elías mit zwei Eiern.
Eines davon briet er in der gusseisernen Pfanne, die Lies am Morgen noch so hingebungsvoll geschrubbt hatte, dann kippte er einen ganzen Teelöffel Salz darüber und ließ es auf eine ausladend große Scheibe Brot gleiten. Aufseufzend ließ er sich an den Tisch fallen und aß, ohne sie anzuschauen. Sein Schmatzen, Stochern und Schaufeln hatte etwas unglaublich Abstoßendes.
Lies schluckte. Der Hunger, der sie eben noch fast umgebracht hatte, verschwand hinter einer Wand aus Abscheu. Dieser Typ wirkte ja wie ein wildes Tier, das sich seine Beute am Berg gefangen und mit nach Hause geschleift hatte. Er aß nicht, er fraß. Das nächste Mal brachte er wohl lebende Tiere und zerlegte sie am Küchentisch. Mit einem dieser Riesenmesser, die sie in der Besteckschublade entdeckt hatte, und die wie neu aussahen. Blut würde über den Fußboden laufen, und das Schreien der gemarterten Kreatur würde das Haus erfüllen und im Tal von den Bergen widerhallen …
Sie sah hoch und in die wässrigen Augen des alten Mannes. Eine seiner buschigen Brauen zuckte, als mache er sich über sie lustig.
»Ich hab Hunger!«, sagte sie laut.
Er grinste sie zahnlos an. » Geturðu ekki steikt egg? – Kannst du etwa keine Eier braten?« Seine Stimme klang äußerst belustigt. » Ekki? Stúlka frá Þyskalandi? - Nicht? Mädchen aus Deutschland?«
Abrupt stand sie auf, sah wild um sich. Offenbar musste man hier selber sehen, dass man was bekam. Fang dir was, zerleg es dir selber, sieh zu, wie es genießbar wird. Island war Wildnis, sie lebte unter Wilden. Hunger und Stress begannen, ihr Kopfschmerzen zu machen …
Auf dem Herd stand die Pfanne, Ei und Salzstreuer daneben, auf dem Holzbrett das Brot. Der Alte schmatzte seine Worte erneut und deutete mit der Gabel auf die Pfanne. » Helvíti «, nuschelte er kopfschüttelnd, » helvíti. « Mach dir selber was, hieß das vielleicht, und es klang nicht mal feindselig. Mit Schwung zerdepperte Lies das Ei auf dem Pfannenrand. Und so, wie es in der Pfanne zerlief, zu stocken begann und zu einer lockeren, duftigen Masse anwuchs, in deren Mitte das Eigelb wie eine satte Sonne lachte, so zerrann auch ihr Ärger über Elías und seine seltsame Gastfreundschaft. Sooo wild war es nun auch wieder nicht in dieser Küche. Das Ei blubberte dickblasig im Fett vor sich hin, verfärbte sich appetitlich braun an den Rändern, und es verströmte den
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