Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Titel: Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Trodler
Vom Netzwerk:
Vielleicht lag es daran, dass sie ihm manchmal das Futter hinstellte.
    Lies hingegen versuchte, einen Platz neben dem Alten zu finden, obwohl es da eigentlich gar keinen Platz gab. Gunnarsstaðir war Elías, und Elías war Gunnarsstaðir. Dazwischen gab es nichts.
    Es gab nicht einmal Platz für Lies’ Strickjacke auf dem Küchenstuhl. Als sie sie einmal dort vergessen hatte, fand sie sie des Morgens in ihrem Zimmer wieder – er musste nachts unbemerkt die Tür geöffnet und sie auf ihr Bett gelegt haben. Auch eins ihrer Bücher hatte keinen Platz auf dem Tisch, ebensowenig wie die letzte Ausgabe des Stern , die sie im Flugzeug mitgenommen hatte. Den Kulturbeutel ließ sie zweimal im Badezimmer liegen, danach nahm sie ihn nach dem Waschen gleich wieder mit, denn es hatte keinen Sinn. Alles, was ihr gehörte, fand sie in ihr Zimmer zurückgetragen, einzig ihre Daunenjacke und die Schuhe wurden längerfristig im Flur geduldet.
    Bis auf das schmutzige Geschirr hatte alles seinen festen Platz, und wehe, die Kaffeedose stand hinter den Tassen und nicht davor wie seit wahrscheinlich zwanzig Jahren. Elías hatte seine Kaffeetasse, trotz der zehn anderen im Schrank, und zur Not benutzte er sie auch ungespült. Die Tasse war hässlich blau gemustert und trug den Werbezug einer Pharmafirma. Bei den Tellern war er nicht so wählerisch, aber den Suppenlöffel, den durfte sie nicht einmal anfassen. Diesen Suppenlöffel trug er stets in einer Schlaufe an seinem Gürtel, und das Besondere daran war, dass dieser Löffel aus Silber war. Er trug die Initialen › AG ‹... Anna Gustavsdottir.
    Sein Tagesrhythmus war streng eingeteilt.
    Elías änderte nichts. Er kochte des Morgens einen Liter Kaffee und füllte ihn in die Thermoskanne. Danach füllte er die Zuckerdose auf, die bis zum Abend hin leer sein würde. Er holte das Brot aus der Backmaschine und legte es auf das Holzbrett – bis zum nächsten Morgen würde es verschwunden sein. Das Frühstück war wenig abwechslungsreich. Es bestand entweder aus Marmeladenbrot oder aus einer Suppe aus frischgemolkener Schafsmilch. Milch war sehr kostbar auf Gunnarsstaðir. Immer, wenn Elías Schafe gemolken hatte, von jedem nur ein bisschen, trug er die Schüssel mit grimmigem Gesicht in die Kühlkammer, und es war vollkommen klar, dass niemand au ßer ihm sich daran vergreifen durfte. Für den Kaffee war sie nicht bestimmt.
    In die Milchsuppe wurde wahlweise Brot zerkrümelt oder Kartoffeln eingedrückt. Stets stand eine Schale mit kaltem Fleisch auf dem Tisch, aus der Elías sich mit den Fingern bediente. Nach einigen Tagen hatte Lies sich abgewöhnt, ihm aus dem Augenwinkel zuzusehen, wie er die Fasern aus den Zahnlücken zupfte und die zäheren Bestandteile weichlutschte. Sie wandte den Blick ab, sobald er begann, das Fleisch mit den Fingern auseinanderzurupfen, obwohl Besteck neben seinem Teller lag. Offenbar aß er schon seit hundert Jahren so und würde das wegen seiner Mitbewohnerin sicher nicht ändern.
    Den Fleischvorrat entdeckte sie gleich am zweiten Tag: Hinter der Speisekammer gab es einen weiteren Raum mit zwei riesigen Kühltruhen, die bis zum Rand mit Fleischstücken gefüllt waren – in einer Größe, wie Lies sie noch nie gesehen hatte. Dies war das Ergebnis eines gigantischen Schlachtfestes, hier also landeten unter anderem die Schafe, die von den Muttertieren getrennt gehalten wurden. Zwischen den gefrorenen rosafarbenen Keulen steckte ein Kopf. Ein in Plastik eingepackter Tierkopf mit blinden Augen. Ob der Alte es selber tat? Schafe schlachten? Abstechen? Mit dem langen Küchenmesser? Es passte zu ihm. Beinahe würgend ließ sie den Deckel der Truhe wieder fallen und hoffte, bis zum nächsten Schlachtfest den Hof wieder verlassen zu haben, damit sie es gar nicht erst mit anschauen musste. Auf jeden Fall vermittelte ihr die Kühltruhe einen bleibenden Eindruck, wovon man hier auf dem Land so lebte.
    Und das harte Gefühl im Magen blieb erhalten, die Kostumstellung fiel ihr als Salatesserin sehr schwer. Es gab keinen Apfel, keine Trauben, Bananen, Pfirsiche, kein Gemüse. Keine Kräuter, keinen luftgetrockneten Schinken, kein Pesto. Keine Tomaten. Keine Nutella. Kein Knäckebrot, keinen Kräuterquark, keine Kekse. Keine Schokolade. Keine Zigaretten.
    Lies war ganz mutig ohne Zigaretten nach Island gefahren.
    »Zigarette«, sagte sie leise. »Zi-ga-rette.« Sie staunte über den Klang ihrer Stimme, die sie nicht mehr oft hörte. Manchmal, wenn sie zu den Schafen sprach.

Weitere Kostenlose Bücher