Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
Oder zu sich selber – wie jetzt gerade. »Zi-ga-rette. Rau-chen.« Und sie sog tief den imaginären Qualm ein, der ihr in der klaren Luft aber tatsächlich noch nicht ein einziges Mal gefehlt hatte. Unglaublich …
Sahnejoghurt gab es auch keinen.
Es gab jedoch in der Speisekammer eine Liste, wo Elías mit ungelenken Buchstaben eintrug, was ausgegangen war oder ersetzt werden musste. Zum Beispiel diese Schokoriegel, Draumur , von denen täglich einer aus der Pappschachtel verschwand, ohne dass sie Elías je Schokolade essen sah. Und natürlich ohne dass sie je einen Riegel angeboten bekam. Auch der Zucker schwand dahin, versank in Elías’ Kaffee, und in zunehmendem Maße auch in Lies’ Kaffee, wie sie erschrocken feststellte.
Nach einer Woche war sie bereits bei zwei Löffeln Zucker pro Tasse gewesen.
Wie Milch im Kaffee schmeckte, hatte sie vergessen.
Toilettenpapier stand auch auf der Liste. Es gab nur noch zwei Rollen im Badezimmer, und einen Stapel Tageszeitungen vom letzten Monat. Elías nahm sich jeden Morgen eine davon und studierte sie gründlich. So, wie Lies ihn kennengelernt hatte, würden die Zeitungen zu gegebener Zeit – nämlich wenn das Toilettenpapier zu Ende war – sicher in handliche Papierstücke zurechtgeschnitten werden. Sie fürchtete sich davor, so was benutzen zu müssen.
Lies fragte sich, wer diese Liste wohl abholen kommen würde. Und wann er wohl kommen würde. Ob er überhaupt kommen würde. Ob er sie mitnehmen würde …
Und dann hupte es eines Tages draußen. Lies hatte längst das Zeitgefühl verloren, nicht nur für die Tageszeit, sondern auch für den Tag, die Woche, den Monat. Wie lange war sie hier – drei Wochen? Vier Wochen? Oder mehr? Es wurde kaum dunkel, und die Uhr war seit dem dritten Tag auf Gunnarsstaðir endgültig auf dem Nachttisch liegen geblieben, weil sie beim Arbeiten störte – war es Nachmittag oder schon Abend? Die dritte kaffipása lag hinter ihr, also musste es Nachmittag sein. Kaffipása unterteilte den Tag in zuverlässige Abschnitte, und Elías wusste genau, wann so ein Abschnitt zu Ende und Zeit für kaffipása war. Es hatte Brot mit Marmelade gegeben, für jeden eine Scheibe, und ihr Magen knurrte schon wieder. Immerzu war sie hungrig, immerzu dachte sie über Essen nach – abartig war das. Vor allem, weil es außerhalb der Mahlzeiten nichts gab. Gar nichts. Und dann nahmen die Bilder von saftigen Spaghetti mit Pesto und Tomaten und von knackigen Salaten überhand, sie sah auf dem Boden quietschgrünen Löwenzahn, der dort gar nicht wuchs, und roch Schnittlauch in der Luft... abartig. Sie würde noch vollkommen verrückt hier werden, so ganz ohne Tomaten und Parmesan... gehupt. Es hatte gehupt! Besuch! Lies fuhr sich durch die Haare und zupfte am Pullover. Besuch!
Elías war bei seinen Hühnern im Schuppen verschwunden. Der Spitz bellte nur kurz, für jemanden, den er offensichtlich kannte. Lies ging zur Tür.
»Ich dachte, du freust dich über Besuch. Ist ja nicht grad’ne Hauptverkehrsstraße hier. Hæ .«
Jói stand vor der Tür und grinste freundlich.
Lies wusste vor lauter Erleichterung und Glück nicht, was sie für ein Gesicht machen sollte – geschweige denn was sie sagen sollte... ›Dumme Pute‹, schalt sie sich selber, ›bedank dich. Bedank dich gefälligst!‹
»Möchtest du... reinkommen?«, sagte sie stattdessen.
»Möchtest du nicht rauskommen?«, fragte er zurück. »Es wird Frühling, guck. Das darf man nicht verpassen.« Und er deutete auf den blauen Himmel, der von Osten her aufgezogen war und der einen perfekten Hintergrund für die eintönigen Berge bildete, er verlieh ihnen nämlich eine sanftere Farbe und lenkte davon ab, dass alles Stein war, so weit das Auge reichte. Ende April oder so. Zu Hause blühten die Osterglocken, und das Gras schoss in die Höhe. Es duftete nach Frühling, nach Erde, nach jungen Blättern. Hier war immer noch alles grau. Aber sie nannten es trotzdem Frühling, wegen eines kleinen Zipfels Blau am Himmel.
»Ich hol Kaffee«, sagte Lies. Als sie mit zwei Tassen und der Zuckerdose wieder rauskam, hockte Jói auf der Treppenstufe und lehnte gegen den Türrahmen. Blinzelnd schaute er in den Himmel, und sie sah, dass er ein paar Sommersprossen auf der Nase trug. Mit dem Kinn deutete er auf das Blau.
»Siehst du? Frühling.«
»Wo?«, fragte Lies verständnislos. Alles sah so aus wie sonst. Graue Berge, graues Gras, winterliches Brummen in der Luft. Dicke Wolken quollen die Hügel
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