Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
vorgefunden und gelöst, und sie hatte aufmerksam zugeschaut.
Diesmal jedoch war alles anders. Nichts, was sie ertastete, war so, wie sie es schon mal gehabt hatte. Ein Bein, kein Kopf, ein Knäuel ohne Zusammenhalt, und das Schaf stöhnte unter den Wehen, die nichts vor- und nichts zurückbrachten. Ihre Finger glitten an der unförmigen Masse ab, ohne sie dem Ausgang ein Stück näher bringen zu können
Lies wischte die Finger am Fell sauber. »Ich hol dir Hilfe«, sagte sie, mit einem sehr unguten Gefühl im Bauch. Elías musste her, egal, wie übellaunig er heute gewesen war, er musste kommen und seinem Schaf helfen. Eilig verließ sie den Stall.
Heftiger Wind empfing sie draußen, Regen nieselte ihr ins Gesicht, und der Himmel war grau von schweren Wolken. Nebel stieg vom Fluss hoch, dahinter saßen grimmig die kahlen Berge und warteten, wie sie das immer taten. Auf was nur warteten sie? Der Mai war längst angekommen, doch warmes Wetter hatte er nicht im Gepäck gehabt, vielmehr immer wieder Schneeschauer und bitterkalte Nächte, so dass sogar der fréttamaður im Radio davon berichtete. Kalt kroch die Feuchtigkeit durch ihre Ärmel und die Beine hoch. Lies bekam schlechte Laune. Sicher lag der Alte im Bett. Am Morgen war er nicht im Stall gewesen, hatte stattdessen das Badezimmer verwüstet und in der Küche keifend eine Tasse nach ihr geworfen, und sie hatte den Grund für seinen plötzlich aufwallenden Zorn nicht erraten können. Sie hasste solche Tage, und an solchen Tagen hasste sie Elías.
Der Spitz war nicht zu sehen, nicht in seiner Hundehütte, nicht im Eingang bei den Schuhen, wo er bei schlechtem Wetter liegen durfte.
»Elías! Elías? Ich brauche Hilfe. Kannst du in den Stall kommen?« Diese Worte hatte sie sich an einem Abend sorgfältig zusammengestellt, für den Notfall. Isländisch war immer noch ein Buch mit sieben Siegeln, und es war immer besser, ganze Sätze auswendig zu lernen. Jetzt war ein Notfall. Lies staunte, wie selbstverständlich die Worte über ihre Lippen glitten.
»Elías? Ich brauche Hilfe. Kannst du kommen?«
Kein Ton war im Haus zu hören. Lies wanderte von der Küche in den nächsten Raum, zurück, in die Speisekammer, in die Kühlkammer. In der Küche keine Spuren, auch nichts Gekochtes. Er hatte gar nichts gemacht, nicht mal gekocht, nachdem es am Morgen nur ein paar Reste gegeben hatte. » Helvíti . Verfluchter Mist!«, knurrte sie. Nicht mal Brotteig hatte er am Vorabend angesetzt, die Brotmaschine gähnte sie an. Für den knurrenden Magen schob sie sich einen Kanten trockenes Brot in die Jackentasche und suchte weiter. »Elías! Wo steckst du? Kannst du in den Stall kommen?« Stille. Die alte Heizung knackte, die Küchenuhr tickte Tod-und-Leben-Tod-und-Leben-Tod-und-Leben …
Sie wurde unruhig. ›Elías ist krank‹, hatte Jói damals gesagt. Krank. Heute Morgen war er verrückt gewesen – war das seine Krankheit? Er hatte stark gehumpelt und gestöhnt, doch sie hatte nicht verstanden, worüber. Oder war er doch nur so verrückt, wie alte Leute eben sind? Seine Zimmertür war wie stets sorgfältig verschlossen. Lies nahm allen Mut zusammen und drückte die Klinke herunter. Schob die Tür auf – was, wenn er hilflos im Bett lag, sie gar nicht hören konnte, gar tot dort lag... Das Zimmer war leer. In einem Karton neben der Tür fand sie einen Haufen benutzter Mullbinden, deren Geruch wie ein unsichtbarer Vorhang im Zimmer schwebte. Lies wandte sich würgend ab und schaute sich um. Der filzige Strickpullover, den er nur draußen anzog, fehlte. Auch seine Bergschuhe fand sie nicht in dem Schuhsammelsurium auf dem Flur. Eilig rannte sie wieder raus. Wo steckte er nur? In der Scheune im Hühnerstall girrten die Hühner vor sich hin, aber kein Elías war zu sehen.
»Elías!«, brüllte sie, während sie nach ihrer Jacke griff. Panik stieg in ihr hoch – nicht wegen des Schafes, das sich im Stall vielleicht zu Tode quälte, nein. Bisher hatte sie immer gesehen, wohin er gegangen war, an ganz freundlichen Tagen hatte er ihr sogar die Richtung gewiesen, in die er gehen würde, oder zumindest an die Stalltür geklopft, damit sie wusste, dass er loswanderte, um Moos zu suchen oder zwischen den Felsblöcken herumzusteigen. Diesmal nicht, diesmal hatte sie auch nicht die leiseste Idee, wo sie suchen sollte, und die Einsamkeit sprang ihr über diese Erkenntnis wie eine fauchende Katze in den Nacken. Die Berge rückten enger zusammen, hielten Gunnarsstaðir fest im Griff
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