Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
und raubten ihr die Luft. Dicke Wolken quollen von den Hängen herab, um das Tal einzunehmen, in der Ferne sah man die Spitzen der Berge schon nicht mehr. Der Regen wurde stärker, rann an ihrem Gesicht hinunter in den Kragen. Lies begann zu fluchen. Wohin, wo nur suchen? Was tun? Kein Hund, keine Spur, kein Garnichts, wo sollte sie suchen …
Ziellos rannte sie um den Hof herum. Traktor, Öltank, Geröllhalde. Nichts. Den Trampelpfad in Richtung Schotterpiste. Nichts. Ob er zu den Klippen gegangen war? Oder dahin, wo die Wildgansnester waren? Bei dem Wetter?? Es gab außerdem doch noch genug Gänseeier in der Speisekammer. Oder ob er Moos suchte? Das tat er ja oft, und nicht immer kochte er es dann auch. Manchmal legte er es zum Trocknen auf die Fensterbank und kochte sich von den getrockneten Klümpchen einen übelriechenden Tee, der gut gegen Husten sein sollte. Trotzdem – Moos suchen bei dem Wetter? Immer stärker wurde die Unruhe in ihr, und mit hochgezogener Kapuze lief sie los, gegen den Wind, der ihr die Regentropfen ins Gesicht peitschte, als wollte er sie davon abhalten, den Hof zu verlassen. Sie ging am Zaun entlang, bis er zu Ende war, dann kam das Pferdegrab mit den Knochen, dahinter begann der Pfad zu den Klippen. Mit kleinen Schritten hastete sie ihn entlang. Man konnte leicht stolpern, weil überall Steine im Weg lagen und die obere Erdschicht durch das Schmelzwasser im Frühjahr unterhöhlt war – manchmal brach sie ein und versank in einem fußknöcheltiefen Loch... Ob Elías das passiert war? Alt und steif, wie er war – abgerutscht, eingeknickt, Bein gebrochen, Hals gebrochen – lieber Himmel!
»Scheiße!« Lies verlangsamte ihr Tempo. Die Angst, sich zu verletzen und vollkommen hilflos zu sein, fraß sich durch ihren Magen. Niemand würde sie finden. Niemand. Hilflos liegen bleiben, weil niemand sie vermissen würde. »Scheiße…« Niemand würde sie vermissen. Niemand würde sie suchen. Sie wünschte sich einen Stock, um den Boden, den sie betrat, auf Löcher abzutasten. Die Angst hinzufallen wuchs mit jedem Schritt. Und mit jedem Schritt schienen auch die Berge näher zu kommen, genau , raunten sie, es ist gefährlich hier, viiiiel zu gefährlich, du hast hier nichts verloren, kein Land für Menschen, verschwinde ...
»Elías!«, brüllte Lies durch den Regen und gegen die Angst an. Es fiel schwer, den Blick auf den Boden zu heften und gleichzeitig die verfluchten Berge zu beobachten, wie sie düster ihre Finger nach ihr ausstreckten, versuchten, ihr ein Bein zu stellen. Der Wind heulte. Das eisige Grau drang in ihr Herz und drohte, sie von innen her versteinern zu lassen. »Elííías! Hörst du mich?« Wasser rann an ihrer Jacke herab und durchnässte die Jeans, die für die Stallarbeit geeignet war, aber nicht für eine Wanderung im Regen, durchnässte die Skiunterhose darunter, tropfte auf die Schuhe …
»Elías!«
Irgendwo bellte ein Hund.
Der Spitz! Wie angewurzelt blieb sie stehen. Da – erneut – der Hund saß hier irgendwo! Dann konnte der Alte nicht weit sein.
»Elías!«, brüllte sie noch lauter und hastete vorwärts. »Elías, wo bist du?«
Der Regen wurde immer nieseliger, Nebel kam vom Flusstal hochgezogen. Nur noch wenige Meter bis zu den Klippen, wo sie ihn von weitem schon oft gesehen hatte und wo auch Wildgänse in Felsecken und zwischen Grasbüscheln am Abhang nisteten.
»Elías! Eliiiiiias!«
Lies blieb stehen. Das Heulen des Windes, das Rauschen des Gletscherflusses, ein paar kreischende Möwen über ihr. Regen, der ihr Gesicht wusch.
Und dann stand der Spitz vor ihr, schwanzwedelnd aus dem Nichts aufgetaucht, und bellte sie an.
»Großer Gott – wo kommst du denn her, guter Hund, wo warst du denn, wo ist Elías...?« Überglücklich hockte Lies sich auf den Boden und nahm den Hund in die Arme, und er ließ sich das gefallen, als wäre er selbst erleichtert, dass man ihn gefunden hatte und dass jetzt alles gut werden würde. »Guter Hund«, murmelte sie unentwegt und: »Wo ist Elías. Zeig mir, wo ist Elías.«
Der Spitz bellte kurz, wie eine Aufforderung. Komm mit. Dann lief er los, und Lies beeilte sich, ihn nicht zu verlieren.
Der Rand der Klippen, die steil zum Fluss hin abfielen, musste hier irgendwo sein, war aber kaum zu erkennen. Laut schnatternd flog eine Gans auf und flatterte zum Fluss hinunter. Sie sah sich kurz um. Das Haus von Gunnarsstaðir hatte sich in den Nebel zurückgezogen, sie war sich nicht mal sicher, in welcher Richtung sie
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