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Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Titel: Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Trodler
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herunter auf die Brust. Das Pferd ließ es geschehen, ohne Furcht, jedoch hoch aufmerksam. Lies wanderte an ihm vorbei, vorsichtig die Hand über das Fell ziehend, über den dünnen Leib, die magere Kruppe, bis zum Ansatz des enormen Schweifes, der sich leise bewegte. Wie merkwürdig, dass das Pferd trotz des Schmutzes immer so sauber wirkte … Sie betrachtete die Wand, an der es immer stand. Hellere Stellen zeigten, wo es sich gerne schubberte, an einem Astloch waren Mähnenhaare hängengeblieben. An der Au ßenwand gab es ein Tor, durch Ritzen zog kalte Luft in den Stall. Und sie entdeckte, wie Elías Vorsorge getroffen hatte, damit sich das Pferd im Notfall befreien konnte: Es gab nämlich eine Art Riegel an dem Tor, der nur durch eine Schnur gehalten wurde. Ein gezielter Tritt, und das Tor würde aufspringen. Ob es so klug war wegzulaufen? Aber vielleicht war das ja der Trick: Der Weiße würde weglaufen, Leute würden ihn sehen und ahnen, dass auf Gunnarsstaðir etwas nicht stimmte. Und gucken kommen. Sicher wusste jeder, dass Elías Böðvarsson kein Telefon besaß. Jeder wusste das – außer Lies Odenthal.
    Man musste sich zu helfen wissen, wie der alte Mann im Film, der sich selbst begrub, obwohl so was doch eigentlich gar nicht geht. Konsequenz, bis zum letzten Atemzug. Sie trat an die Wand und lugte durch eine breite Ritze nach draußen. Die Welt im Format einer Briefmarke. Ein Stück Wiese mit Schneeresten, das Braune dahinter waren die Berge. Ein Rabe hüpfte über Eisbuckel in ihr Sichtfeld, im Schnabel trug er Beute. Dann hüpfte er aus der Briefmarke heraus, und die kleine Welt war wieder leer.
    Was es wohl für ein Gefühl war, immer eingesperrt zu sein? Immer diesen Mistgeruch zu riechen, nicht mehr als diese knappen zehn Quadratmeter für sich zu haben … Fast tat das Pferd ihr leid. Es war irgendwie zu groß, um in diesem Kasten zu leben, das passte nicht. Was der Alte sich dabei wohl dachte? Aber vielleicht waren gewisse Dinge auf dieser Insel einfach so. Vielleicht, weil es zu kalt war, um Energie an zu viele Gedanken zu verschwenden. Das Pferd jedenfalls machte keinen wirklich unglücklichen Eindruck – es stand halt in diesem Holzkasten, es soff Wasser aus dem Eimer, und wenn es Heu bekam, fraß es gierig. Wie Pferde das eben so machten.
    Lies grinste. Irgendwie war Island verdammt einfach – trotz der komplizierten Sprache.
     
    Mit der Zeit traute sie sich sogar vom Hof weg. Die Berge lauerten ihr immer noch auf, doch sie schaffte es inzwischen, die eingezäunten Weiden zu erkunden und hinter dem Haus in den Hängen herumzuklettern. Dorthin folgten die Berge ihr nicht, und sogar das seltsame Brummen, das sie immer dann hörte, wenn sie darüber nachdachte, wie verflucht einsam Gunnarsstaðir doch in diesem Tal lag, wurde deutlich leiser. In den Hängen fand sie die Wildgansnester, aus denen Elías die riesigen, wohlschmeckenden Eier gestohlen hatte. Die großen Vögel flogen erregt schnatternd auf, wenn sie dort umherstreifte. Auch ein Schneehuhn entdeckte sie, als sie zwischen den Heidebüscheln saß. Durch sein Davoneilen peppte es das gräuliche Areal, welches sie sich zum Anschauen ausgesucht hatte, enorm auf, denn es trug noch Reste seines weißen Wintergefieders.
    Lies hatte festgestellt, dass sie weniger Angst vor dem braunen Tal und seiner Einsamkeit empfand, wenn sie sich nur ein kleines Stück der Gegend anschaute. Ein paar Felsbrocken, lange Gräser, altes Heidekraut. Harsche Schneereste in windgeschützten Winkeln. Müde Grasnarbe, Tierköttel zwischen den Halmen, das verlassene Nest eines Bodenbrüters. Ein Stück rotweißes Plastikband, weitgereist. Neben einem dicken Stein eine alte Axtschneide. Lies hob sie auf. Ob sie Elías gehörte? Oder seinem Vater? Großvater? Einem Wikinger?
    Sie fand auch alte Knochen in einer Senke hinter der großen Weide, groß genug, dass sie einem Pferd gehören konnten. Der Spitz sprang kläffend um sie herum und wirkte aufgeregt, deswegen ließ sie den Knochen wieder in der Bodensenke verschwinden. Vielleicht nahm man in Island keine Knochen in die Hand.
    An diesem Abend blieb sie nach dem Essen in der Küche sitzen, statt sich wie sonst in ihr Zimmer zurückzuziehen, um sich für die Nachtrunde im Stall auszuruhen. Elías hatte das Radio nach den Nachrichten vergessen auszudrehen, und so knarzte leise Musik aus dem Äther. Der Ölofen bullerte geheimnisvoll vor sich hin. Auf dem Fußboden malte sich ein Ölfleck ab – da hatte sie beim

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