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Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Titel: Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Trodler
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und brauner Flecken, manche verkrustet, andere vernarbt, und keins davon hatte etwas mit der Felswand zu tun. Elías war tatsächlich ein schwerkranker Mann.
    »Großer Gott«, murmelte sie und schluckte den Ekel herunter. Wie zum Hohn fegte der Wind über sie hinweg und verwandelte nasedrehend den Regen in Schneegriesel. Natürlich gab es in Island Schnee im Mai, wieso auch nicht! Doch warum ausgerechnet jetzt. Lies dachte fieberhaft nach. Das Pferd.
    »Sörli?«, fragte sie noch mal nach.
    Er nickte, sagte irgendwas, und als sie nicht verstand, legte er den Finger quer in den Mund – ein Pferdegebiss. Und patschte dem Spitz auf dem Rücken herum – ein Sattel.
    »Ich soll Sörli für dich holen.«
    Elías nickte. »Ja, Mädchen. Ich kann nicht... ich kann nicht laufen. Das Pferd soll mich tragen. Sörli trägt mich.«
    Der Schnee wurde dichter und nasser und verklebte seine Brauen. Die Zeit lief davon. Das Gesicht des alten Mannes war blass, die Nase hochrot. Er würde erfrieren. Vielleicht lag er schon lange hier. Seine kaputten Beine wollte sie lieber nicht mehr ansehen. Und so zog sie ihre Daunenjacke aus und deckte Elías’ plötzlich so zerbrechlich wirkenden Oberkörper damit zu. Die Jacke wirkte lächerlich gegen das wilde Wetter.
    »Ich hole das Pferd«, sagte sie mit fester Stimme und richtete sich auf. Ihre Knie zitterten, obwohl sie noch hockte. Elías hatte die Augen geschlossen. »Elías?«, fragte sie ängstlich. Er rührte sich nicht. Doch dann tastete er nach ihrer Hand und drückte sie leicht. Es galt, sich zu sputen, wer wusste, wie viel Zeit ihm noch blieb …
    Der Spitz bellte ihr hinterher, als sie loslief, nur im Pullover gegen eisigen Wind und Schnee gestemmt, folgte sie ihren Trittspuren im nassen Heidekraut und hoffte, dass sie den Weg zum Hof nicht verlor.
     
    Das Pferd stand mit eingeknicktem Hinterbein, den Hintern gegen die Wand gedrängt, im Stall und döste vor sich hin. Lies hatte gar nicht erst nach dem Schaf geschaut, sie wusste, dass es litt, hatte sein Stöhnen schon vor der Stalltür gehört, und ihr Herz krampfte sich zusammen, doch da draußen lag Elías und erfror womöglich. Mann gegen Schaf – das Schaf verlor.
    »Was für eine Scheißidee«, murmelte sie unablässig, gleichzeitig auf der Suche nach irgendeinem Halfter für das Pferd. »Was für eine gottverdammte Scheißidee, nach Island zu gehen, ich krieg’nen Fön, wie konnte ich nur – was für eine behämmerte Scheißidee...« An der Wand fand sich ein zerbröselndes Halfter aus altem Nylon – grübelnd hielt sie sich das Teil hin. Wie herum wohl? So herum. Oder andersherum? Und ob es passte? Das Pferd wachte auf und steckte den Kopf über die Boxentür.
    Langsam ging sie auf es zu. »Dein Herr braucht dich, Sörli. Du musst jetzt ganz brav sein – ich hab nämlich nicht die geringste Ahnung, wie das hier funktionieren soll...« Reden tat gut. Reden beruhigte, beschäftigte das Gehirn, inspirierte die Finger, die ungeschickt an dem Halfter herumfummelten. Sie redete weiter auf das Pferd ein, erzählte dummes Zeug, um sich abzulenken. Zum ersten Mal in all den Wochen musste sie das weiße Pferd richtig anfassen – sie, Lies, die Pferde eigentlich ja nicht mochte, weil sie rochen, bissen und unberechenbar waren, und die deshalb immer Angst vor ihnen gehabt hatte.
    » Þetta kemur «, murmelte sie, » þetta kemur allt saman! – Das wird schon alles!« Der blöde Spruch machte irgendwie ruhig. Mit zitternden Händen streifte sie das Halfter so über die Nase, dass es gleich professionell aussah. Sörli schnaubte leise. Lies konnte nicht anders – sie strich über seinen Hals und fuhr zum ersten Mal richtig tief in die mächtige Mähne. Ihre Finger verschwanden in den langen Haaren, und sie staunte, wie weich das Fell unter der Mähne war, wie fest diese Mähnenhaare waren, und darüber, dass das Tier nicht explodierte oder sie gar anfiel. »Sörli«, murmelte sie, »Sörli, hab Geduld mit mir.« Das samtschwarze Auge blickte ruhig drein, ein Ohr war ihr zugewandt. Er hatte Geduld.
    Hinter den Heuballen fand sie tatsächlich einen alten Sattel, wie Elías gesagt hatte, und mit etwas Mühe schnallte sie das Teil auf Sörlis Rücken. Der Alte würde ihr schon sagen, ob es so richtig war. Dann packte sie entschlossen das Seil und führte das Pferd aus dem Stall. Willig folgte es ihr. An der frischen Luft blieb es erst mal stehen, hob den Kopf und witterte in alle Richtungen. Und schnaubte dann lange und

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