Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
ausgiebig. Sicher hatte es die Luft vermisst und den Himmel und das Gras …
Einträchtig wanderten sie den Trampelpfad hinunter zu den Klippen. Sörli marschierte brav hinter ihr, und Lies hielt das Seil so locker in der Hand, als hätte sie nie etwas anderes getan als Pferde geführt – fast musste sie darüber lachen. Ausgerechnet sie, die Pferde furchtbar fand. Ausgerechnet. Dieses hier zumindest war nicht furchtbar. Manchmal geschahen doch merkwürdige Dinge.
Auf halbem Weg ärgerte sie sich, dass sie sich keine neue Jacke mitgenommen hatte, es wurde nämlich verflucht kalt, der Wind pfiff ihr um die Ohren, und der Schneeregen, der sich immer mehr zu Flocken verwandelte, setzte sich besitzergreifend auf den Fleecepulli, um dort zu schmelzen und ihn hinterhältig und schleichend zu durchnässen. Lies beschleunigte ihre Schritte, den Blick auf den Boden gerichtet, um ihre Spuren wiederzufinden, denn sehen konnte man durch den schräg fliegenden Schnee nicht viel. Und die Klippe war allgegenwärtig, irgendwo zur linken Hand – nur wo, konnte sie von hier aus nicht sagen. Was zum Teufel hatte Elías bloß dort gesucht.
»Elías!!! Wir kommen!«, rief sie, eher um sich selbst zu beruhigen. »Wir kommen, Elías!«
Sörli schnaubte leise. Seine Tritte wurden kürzer und hektischer, und Lies hatte das Gefühl, dass das Pferd hinter ihr wuchs. Es wurde wachsamer. Hörte es etwas, oder hatte es Angst? »Mach mal halblang, Junge«, sagte sie über ihre Schulter, »und mach mir jetzt keine Schwierigkeiten.« Gackernd flog eine Wildgans über ihren Kopf – die Klippen konnten nicht mehr weit sein. Sörli schnaubte warnend.
»Elías!!« War der Weg vorhin auch so weit gewesen? Die Beine taten ihr weh vom vielen Stolpern über Grasbüschel und Steine, von den Armen her wurde ihr so kalt … Wie weit war es denn noch...?
Der Spitz bellte kurz auf.
Lies hob den Kopf. Das Pferd rammte die Beine in den Boden. Wieder das Bellen. Ganz in der Nähe. Immer dichter wurde das Schneegestöber, und ihre Furcht wuchs. Was, wenn sie zu weit an die Klippen herantrat. Sie packte das Seil fester. Wenn sie abrutschte. Stolperte! Sörli schnaubte wieder leise, wie um sie zu beruhigen. Und dann ging er um einen Felsbrocken herum an ihr vorbei und schlug eine andere Richtung ein. »He!«, rief sie, heftig am Strick ziehend – da riss er ihr den Strick mit einem kurzen Ruck des Kopfes aus der Hand und stapfte weiter, ohne sich um ihren Protest zu scheren. Lies wurde panisch. Was war das nun schon wieder! Wenn der Gaul weglief! Wieder bellte der Hund, und Sörli wieherte, ein helles, klangvolles Geräusch. Gleich darauf verschwand sein weißer Schweif hinter einer Wand aus Schneeflocken.
Lies war allein, möglicherweise an dem Ort, wo vor vielen Jahren drei Menschen in den Fluss gestürzt waren. Sie legte die Hände an den Mund, schloss die Augen und holte tief Luft.
»Elías!!!!«, brüllte sie, so laut sie konnte. Nur Wind und lautloser Schnee, und weiter unten das Rauschen der Jökulsá, die hungrig alles mit sich riss, was ihr vor die Füße fiel. »Scheiße, verdammter Mist!« Lies trat entnervt einen Heidebusch, der nichts dafür konnte. Ihr war danach, sich einfach in den Schnee zu setzen. War doch alles egal. Eiseskälte kroch an ihren Armen und den nassen Beine hoch. »Elías! Verflucht, ich hasse euch...«
Der Spitz tauchte auf und sprang schwanzwedelnd an ihr hoch. Aufseufzend kniete sie nieder, um ihn zu begrü ßen, und ließ sich vor Erleichterung sogar das Gesicht ablecken. »Wo ist Elías«, flüsterte sie, »zeig mir, wo Elías ist. Na komm, zeig’s mir, zeig’s mir...« Der Spitz bellte einmal auf, als habe er sie verstanden, obwohl er gar kein Deutsch kannte, und wuselte los, und Lies musste sich beeilen, um ihn nicht auch noch aus den Augen zu verlieren. Er bewies, wie leicht man sich verlaufen konnte, selbst wenn man nur wenige hundert Meter vom Hof entfernt war, denn Elías lag in einer Richtung, die Lies von sich aus niemals eingeschlagen hätte. Weder die Berge noch die Klippen waren durch das Schneegestöber zu sehen. Als Erstes erkannte sie Sörlis Silhouette, dann ihre dunkle Jacke im Schnee. Das Pferd hatte den Kopf gesenkt und ließ sich von Elías die Nase liebkosen.
Er lebte. Lies fiel ein dicker Stein vom Herzen.
»Gut«, sagte er leise, als sie neben ihm niederkniete, »gut, Mädchen, gut.« Sein Gesicht hatte sich bläulich verfärbt – war sie wirklich so lange weggewesen? Er wusste wohl selbst,
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