Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
Reichweite. Seine Ohren spielten aufmerksam, und hinter seinem buschigen Schopf war zu erkennen, wie er die Ankömmlinge beobachtete. Bewachte er die Stelle?
»Was Elías hier wohl gesucht hat?« Sie drehte sich zu ihm um. Der Wind drückte ihre Haare nach vorne, sodass sie kaum noch etwas sah, doch das war weniger schlimm, als wenn er ihr Regentropfen ins Gesicht schlug.
»Deine Jacke.« Jói hob sie auf. Sie war im Schnee nass geworden, und er schüttelte den Kopf, als Lies ihm seine Jacke zurückgeben wollte. Stattdessen ließ er den Proviantbeutel aus der Hand gleiten und setzte sich auf einen Stein nah am Abgrund. Aus unerfindlichen Gründen wurde Lies schlecht bei dem Anblick, wie sein Fuß Steinchen lostrat und wie Erdreich in die Tiefe bröselte. Wohin das Steinchen von dort aus fiel, das verschluckte das niemals endende Rauschen der Jökulsá. Jói kramte in Seelenruhe in dem Beutel.
» Kaffi ?«
Diese Frage, oben auf der Klippe, im isländischen Dauerwind, nach solch einem Tag... Kaffi ? Ein bisschen wich die Schwere aus ihrem Herzen, und sie atmete durch.
Wieder einmal wurden die Dinge so einfach und klar. Das Schaf war tot, sein Lamm untergebracht, Elías gerettet, das Pferd gefunden – und nun gab es Kaffee. Einfach Kaffee.
Er hielt ihr den Becher hin und lächelte sogar ein bisschen. So wie der Wind seine schwarzen Haare zauste und rote Farbe auf seine Wangen zauberte, sah das unwiderstehlich aus, und Lies musste tatsächlich schlucken. Lieber Himmel. Es war nicht gut, wenn man so lange allein war. Gepaart mit der Erleichterung, dass heute dann doch alles gut ausgegangen war... Schüchtern erwiderte sie das Lächeln und ließ sich auf einem anderen Felsbrocken nieder. Der Kaffee war so, wie sie ihn mochte, stark und nicht zu süß, und sie schmeckte einen Hauch Kardamom hindurch, ein Gewürz, das sie erst vor kurzem in Elías Sammlung gefunden hatte. Die Afrikaner tranken den Kaffee mit Kardamom. Sie wunderte sich, was Jói so alles wusste. Ob er mal in Afrika gewesen war?
Sie teilten sich Brot und kaltes Fleisch und ließen die Blicke über den Klippenrand wandern, ohne zu reden. Der Ort, an dem sie saßen, hatte etwas von Ewigkeit. Wind, Wasserrauschen, Schnee in der Luft, hinter ihr das grasende Pferd. Die schwindelerregende Weite der Jökulsá-Schlucht, der diesig graue Himmel, irgendwo weit hinterm Horizont im Westen das unvorstellbar große Gletschermassiv des Vatnajökull. Der Geruch von nass gewordenem Leder und feuchtem Kraut, von nasser Erde und nassen Steinen. Feuchte Schafswolle. Der intensive Geruch seiner Jacke. Jói, der in die Luft starrte und entspannt an seinem Fleisch kaute. Lies drückte ihre Füße in den Schnee, und der Abdruck gefror zu Eis. Auch die Zeit hielt an, alles Geschehen, alle Erinnerung; an heute, an gestern, an früher... Sie wünschte sich, dass es so bleiben könnte.
Lies wurde mutiger, nun, da der schlimmste Hunger gestillt war und sie neue Kraft aufkeimen fühlte. Und so wagte sie, auf die andere Seite zu schauen. Die andere Seite der Schlucht war noch schroffer, dort lagen zu Füßen der Berghänge ausgedehnte Wiesen, die niemand nutzen konnte, weil es unmöglich war, dort hinzukommen.
»Früher gab es hier einen Übergang. Seile hingen über die Schlucht.« Jói deutete nach Osten, wo die Klippen enger zusammenrückten. »Man konnte sich in einem Korb auf die andere Seite ziehen lassen. Dort haben sie dann Gras geschnitten und Heu für die Tiere gemacht und alles mit dem Korb hier herübertransportiert.« Er lächelte sie an, und sie wunderte sich, woher er ihre Gedanken erraten hatte. Lies wärmte ihre Finger an dem Kaffee. »Vor Jahren haben sie weiter unten bei der Brücke einen neuen Ziehkorb gebaut, für die Touristen. Aber es ist keiner gekommen. Das Tal von Gunnarsstaðir ist wohl nicht interessant genug.« Er goss ihren Becher ein zweites Mal voll. »Wir können mal hinwandern. Wenn du magst.«
»Ist es da auch so steil?«, fragte sie zweifelnd.
»Steil?« Er hob die Brauen. »Das ist nicht steil hier. Man könnte hinunterklettern – guck...«
Und dann verstummte er. Stand auf und machte den allerletzten Schritt zum Klippenrand. Lies rutschte das Herz in die Hose. Instinktiv griff sie nach seinem Arm, um ihn zurückzuhalten, und er wandte sich erstaunt um. Just in dem Moment kam die Sonne heraus. Sie hieß den Wind innehalten und streichelte sanft über Lies’ Gesicht. Geh , flüsterte sie, geh, und hab keine Angst . Und Lies tastete
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