Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
sich vor, bis sie mit zusammengezogenen Schultern neben Jói am Abgrund stand. Seinen Ärmel hielt sie immer noch gepackt, weil sie furchtbare Höhenangst hatte und ihr auch die Beine schwach wurden – ob das der Abgrund verursachte oder Jói Magnússon neben ihr, war nicht ganz klar -, es war aber auch egal, denn er nahm einfach ihre Hand, hielt sie ganz fest und zog sie neben sich. Lies fühlte sich einer Ohnmacht nahe.
Die Felswand war in der Tat nicht so steil, wie sie von oben aussah – ein geschickter Kletterer würde wohl leicht einen Weg hinunterfinden. Sicher war Elías früher ein geschickter Kletterer gewesen. Allerlei Vögel hockten in Nischen, schliefen oder putzten das Gefieder. Hier saßen sie windgeschützt, hier würden auch die Jungvögel aufwachsen, wenn die Zeit gekommen war. Lange war es nicht mehr bis dahin, trotz des Schneeintermezzos hockte das Leben bereits in den Ecken. Lies’ Blick wanderte weiter an ein paar einsamen knorrigen Heidebüschen vorbei, die sich mit letzter Kraft am Fels festhielten, damit sie nicht ins Wasser stürzten. Der Wasserpegel des Gletscherflusses hatte zugenommen, ein sicheres Zeichen, dass der Sommer vor der Tür stand, denn das Eis am Gletscher begann zu schmelzen. Atemberaubend wild tobten die Wassermassen um die Kurve, prallten auf die gegenüberliegende Steilwand und brachen sich an einem breiten Felsblock, stürzten in die Höhe und zerstoben von oben in Abermillionen von Wassertropfen. Lies spürte, wie Jóis Hand die ihre noch fester umklammerte, als bewege ihn dieser Anblick so, dass er noch mehr Nähe suchte, und ihr Herz klopfte noch ein bisschen lauter. Feiner Nebel überzog ihre Gesichter, strich sanft über die Haut. Die Ohren wurden taub vom Lärm des Wassers, doch das war bedeutungslos, denn das, was wichtig ist, hört man auch so.
Dieser Felsblock, an dem die Flut sich brach, lag schon seit Urzeiten dort unten, vielleicht ein eiszeitliches Mitbringsel vom Gletscher. Ihm gehörte der Fluss, er bestimmte das Tempo des Wassers, das ihn über die Zeiten hinweg glattgewaschen hatte, er bestimmte, welche Welle sich an ihm brach und welche unbeschadet an ihm vorbeischwimmen konnte. Er war der König des Flusses. Die Sonne mischte sich ein. Sie zauberte einen hauchzarten Regenbogen in die Gischt, und durch sie hindurch drängte sich, als sei es Zauberei, ein schwarzes Kreuz, von trauernder Hand in den Fels gemeißelt, überdeutlich an das Auge des Wanderers.
»Was ist das?!«, fragte Lies atemlos.
Jói holte tief Luft.
»An diesem Ort ist Elías’ Leben einmal geendet.« Er verstummte, und seine Gesichtszüge verrieten seine Ergriffenheit. »Ich hab das nie zuvor gesehen – und ich bin schon hier gewesen.«
»Wer hat das gemacht?«
Wieder ein Druck seiner Hand. »Elías. Elías hat das gemacht.« Kurze Pause. »Nur die ganz Alten kennen noch die alten Geschichten. Weißt du...« Er sah sie an. »Ich treffe so einige Leute auf meinen Fahrten. Sie erzählen nicht gerne von Elías Böðvarsson. Sie mögen ihn nicht.«
›Ach‹, dachte Lies, ›sag bloß.‹ »Naja«, sprach er weiter, »trotzdem weiß ich ein paar Dinge. Das hier, das ist – das ist...« Noch mal holte er tief Luft, »willst du’s wissen?« Sie nickte. Da zog er sie sanft am Arm zu Boden.
»Setz dich besser.« Aufgewühlt hockte sie sich neben Jói – aufgewühlt wegen der Geschichte, wegen des Abgrunds, der mit seinem schauerlichen Kreuz immer näher kam, wegen Jói so dicht neben sich – und sortierte die Beine vorsichtig in ein Felsloch, das ihr die Illusion bot, sich, wenn sie abstürzte, dort verhaken zu können.
»Elías war als junger Mann verheiratet«, begann er. »Mit Anna Bryndís«, ergänzte sie leise. »Ich habe den Ehering gefunden.« Er nickte nachdenklich.
»Mit Anna Bryndís. Sie war, so erzählt man sich, eine schwarzhaarige Schönheit aus Vopnafjöður und Elías nicht ihr einziger Verehrer. Aber sie wählte ihn, und man darf sagen, dass ihr Vater wohl nicht böse darum gewesen ist, denn Elías’ Hof war früher der größte Hof im ganzen Tal. Es hieß, die beiden Töchter vom alten Böðvar Gunnarsson seien die reichsten Mädchen im ganzen Osten gewesen. Doch bevor man sie verheiraten konnte, starben sie an Fieber. Elías blieb allein mit seinem Bruder.«
»Palli. Der Pilot.« Auf seinen Blick hin sagte sie schnell: »In meinem Schrank hängt ein Foto. Der Kaufmann hat mir gesagt, wer das auf dem Foto ist.« Von Anna hatte sie keine Fotos
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