Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
des Schafes. Die Augen des Tieres blickten rein und unschuldig. So wie man es immer hörte, so war es tatsächlich. Es kannte keinen Arg und keine Zukunft, alles war jetzt – und jetzt war Schmerz. Ein »Nachher« kannte es nicht.
Murmelnd spannte Jói die Pistole, setzte sie an der Stirn an, nickte noch einmal abschließend – und drückte ab.
Der Schuss donnerte durch den Stall. Einige Schafe meckerten los, als wüssten sie genau, was gerade geschehen war, eins rannte sogar kopflos im Kreis herum. Das Schaf zuckte ein paarmal heftig, dann lag es reglos. An Jóis Schulter vorbei sah Lies, wie ein dünnes Rinnsal Blut an dem Kopf herabfloss. Es roch ein bisschen verbrannt. Tot.
Tränen liefen ihre Wangen herab und netzten die Lippen. Tot. Das war das erste Mal, dass sie damit konfrontiert wurde. Der Tod schmeckte bitter. Der Tod kam in schmierigem Mist, stank nach altem Blut und Leiden, und er blieb, bis man ihn wegräumte. Er ging nicht von selber. Er wartete.
Am liebsten hätte sie sich irgendwo hingesetzt und gar nichts gemacht und den Tod einfach vorbeiziehen lassen, wie die Tiere es mit schlechtem Wetter taten. Einige standen noch starr, andere fraßen bereits wieder. Doch zum Abwettern war keine Zeit. Weder dafür noch zum Traurigsein. Das Waisenlämmchen lag einigermaßen satt und still auf einem Bündel altem Heu in der Nachbarbox und ahnte nicht, dass es ab jetzt allein war. Die Schafe mussten versorgt werden; Heu musste nachgelegt werden, und Wasser fehlte auch in den Näpfen. Und das Pferd – das Pferd fiel ihr ein. Ob es wohl noch draußen stand und Gras zupfte? Ihr Denken war irgendwie gelähmt. Der Tod war noch hier.
»Hilfst du mir?«, fragte Jói. »Pack mal mit an, dann ist es leichter zu heben.« Sie biss sich auf die Lippen. Weitermachen. Es gab keine Pause, kein Verschnaufen. Weitermachen. Immer weiter. Und so packte sie das tote Schaf an den Hinterläufen, kämpfte mannhaft gegen den Brechreiz an, den der faulige Geruch in ihr auslöste, und hievte mit Jói den Kadaver über die Trennwand in die Schubkarre, die er zurechtgestellt hatte.
»Wenn es aufhört zu schneien, wird es verbrannt. Du kannst trockenen Dung nehmen und von der schmutzigen Wolle, oder Folie von den Heuballen, dann brennt es besser.« Für ihn war sonnenklar, dass sie das Schaf verbrannte und nicht Elías. Mit gesenktem Kopf fuhr er die Schubkarre nach draußen. Nun ja, Tiere verbrennen konnte sie ja inzwischen. Lies holte tief Luft und begann mit der Fütterung. Sie stolperte um den Heuballen herum. Die gewohnte Arbeit beruhigte ein wenig ihre Nerven. Nun kannte sie wieder jeden Schritt, Heu abrupfen, auf die Arme laden, verteilen, zurücklaufen. Tief steckte sie die Nase in das duftende Heu. Der Tod trollte sich davon, Heu gehörte zu den Lebenden. Da hatte er nichts verloren.
Während Lies das Heu verteilte, lief Wasser aus dem Quellrohr in die Eimer, und die wartenden Schafe blökten, als wären sie dem Verhungern nahe. In der letzten Box war in der Zwischenzeit ohne ihr Zutun noch ein Lamm geboren worden – der Anblick des munteren, noch ein wenig feuchten Tierchens und seiner gesunden Mutter milderte die Trauer ein wenig.
Trotzdem – was für ein schecklicher Tag. Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen von der Wange und machte sich daran, dem Schaf ein zweites Lamm unterzuschieben. Es funktionierte nicht immer, aber einen Versuch war es wert. Mit beiden Händen griff sie in das nasse Fell des Neugeborenen und rieb den Schleim an das Fell des Waisenlammes. Eine weitere Portion kam von der glitschigen Nabelschnur. Lies bearbeitete das Fell, als könnte allein das die Trauer und das schlechte Gewissen beseitigen – »Es muss klappen, es muss, es muss«, flüsterte sie und nahm die Hände von dem Lamm, Angst und Trauer im Herzen. Das Schaf schaute ein wenig verwundert drein und ließ sich bitten, am Ende jedoch leckte es beide Lämmer sauber und blubberte vor sich hin. Lies sank wie betäubt auf die Brüstung. Trotzdem – es war ein Scheißtag.
»Der Hengst ist weg.« Jói stand in der Tür, mit verärgertem Gesicht.
Was für ein gottverdammter Scheißtag.
Irgendwie kostete es sie große Mühe, sich aufzurichten und überhaupt zu reagieren. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass auch sie seit dem Morgen nichts mehr gegessen hatte und dass ihre Beine irgendwann den Dienst versagen würden. »Ich geh ihn suchen«, sagte sie tonlos und wollte sich an Jói vorbeischleichen, nichts als Mutlosigkeit im
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