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Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Titel: Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Trodler
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Herzen, weil sie genau wusste, dass sie das blöde Pferd sowieso nicht finden würde – und wenn, würde es sich nicht fangen lassen – und dass die Probleme für diesen Tag somit längst nicht alle gelöst waren. Und sie war müde, so unglaublich müde.
    Er hielt sie am Pullover fest. Sein Blick, der lange und beinahe andächtig über ihr Gesicht wanderte, war nicht zu ergründen. Die schwarzen Haare lockten sich auf der Stirn und neben den Ohren, und von der Anstrengung rannen ihm feine Schweißperlen seitlich zum Hals herab und wurden vom Kragen des Skirollis aufgesogen. Für den Bruchteil einer Sekunde verengten sich die Augen, und er zwinkerte heftig. Der andächtige Blick blieb. Lies dachte, reiß dich zusammen, dumme Kuh …
    »Wir nehmen lieber Kaffee und was zu essen mit, was meinst du«, sagte er mit einem Mal, ließ sie los und verschwand nach draußen. Die Tür knallte ein wenig zu laut, aber vielleicht war das auch der Wind, der mitmischen musste.
    Weil ihr nicht einfiel, was sie sonst tun sollte, und Jóis Blick sie noch nachträglich verwirrte, brachte sie erst ihre Fütterungsrunde zu Ende und verließ dann den Stall. Jói war im Haus verschwunden, sie fand ihn in der Küche, wo er Kaffee kochte und sich gleichzeitig mit Elías über den Flur hinweg unterhielt. Mit Thermoskanne und einem Proviantbeutel ausgerüstet, kam er auf sie zu. »Wollen wir?«
    Verlegen nickte sie.
    »Elías meint, wir sollen zu Fuß gehen, der Hengst wird nicht weit gelaufen sein.«
    »Hm.« Lies griff sich den trockenen Kanten Brot von der Anrichte und folgte ihm. Ihr war schlecht vor Hunger und Müdigkeit, trotzdem, eine Pause gab es nicht. Für Jói ja auch nicht...
    »Hast du überhaupt so viel Zeit?«, fragte sie stirnrunzelnd, als sie den Trampelpfad nach Westen gingen.
    Er nickte lächelnd. »Das passt schon. Einen Hengst fangen, der nicht gefangen werden möchte – das macht man besser zu zweit. Und ein paar Schritte tun mir auch gut.« Sie erinnerte sich an seinen Gesichtsausdruck, als er den Pistolenabzug gedrückt hatte, und nickte verstehend. Er war zwar Tierarzt, aber auch nur ein Mensch.
    Schweigend wanderten sie nebeneinander her. Der Wind blies unbarmherzig durch den Fleecestoff, Lies rieb sich verstohlen die Arme, weil die Kälte hinterhältig und klamm an ihren Armen hochkroch.
    »Hast du keine Jacke mitgenommen?«
    Die Jacke. »Sie liegt da, wo ich Elías gefunden habe«, sagte sie langsam. »Ich muss sie wohl vergessen haben...«
    »Dann gehen wir die als Erstes holen. Warte mal...« Einen Augenblick später legte er seine Jacke über ihre Schultern. Dankbar schlüpfte sie in die Ärmel und zog die Jacke vorne zusammen. Sie roch nach ihm und nach Tieren. Sie roch gut.
    Der Weg hinunter zu den Klippen sah schon wieder anders aus als vorhin. Es hatte endlich aufgehört zu schneien, und der wenige Schnee, der auf dem Boden liegen geblieben war, trat sich unter ihren Füßen fest, sodass man die Spuren würde zurückverfolgen können. Hufspuren sahen sie keine. Zaghaft blickte sie hoch, was sie immer noch sehr selten tat, weil sie sich vor dem Gefühl der Hilflosigkeit fürchtete. Braun und breit ragten die Berge beiderseits der Jökulsá in den grauen Himmel, die Oberkante wolkenverhüllt – nur jetzt waren sie schweigsam. Kein Brummen. Stille. Kein Vogel zerschnitt mit scharfen Schwingen die Luft, nur der Wind und das Rauschen des Gletscherflusses teilten sich die Ruhe. Ihrer beider Schritte knirschten im trockenen Schnee, mal im Gleichklang, mal versetzt.
    Der Gleichklang hörte sich besser an.
     
    »Da vorne liegt sie...« Lies’ Stimme erstarb.
    Die Jacke lag wohl da, doch auch das Pferd stand an der Stelle, wo sie Elías gefunden hatte, gleich am Rande der Klippe, und zupfte im Heidekraut herum. Warum war es ausgerechnet hierhergelaufen? Unwillkürlich ging sie schneller, musste sich gegen den Wind beugen, der so heftig wehte, als wolle er verhindern, dass sie der gefährlichen Klippe näher kam – man konnte nicht erkennen, wie nah das Tier am Abgrund stand. Wenn es nur einen falschen Tritt machte, nur einen Schritt …
    »Lies.« Jói hielt sie an der Schulter fest. »Lass ihn. Er wird nicht weiter weglaufen. Lass ihn.« Langsam näherten sie sich der Klippe. »Und hier hast du Elías also gefunden?«
    »Ja. Hier vorne.« Sie machte die letzten Schritte und deutete auf die Stelle, wo das Heidekraut noch plattgedrückt war. Sörli, der genau dort gefressen hatte, zog sich zurück, blieb aber in

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