Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
gefunden.
»Der Kaufmann.« Jói beugte sich vor und warf Steinchen in den Abgrund. »Der hat mir die Geschichte erzählt, so wie er sie von seinem Vater gehört hat – du kennst sie also auch schon?« Seine Stimme klang ein bisschen enttäuscht.
»Nein!«, beeilte sie sich zu sagen, »nein, ich weiß nur von Palli und... und dass sie alle tot sind.«
»So ist es«, nickte er und zog den Proviantbeutel heran, um sich ein weiteres Stück Brot herauszufischen. Lies bot er keines an, vielleicht weil sie seine Geschichte kaputtschwafelte und ihn dauernd unterbrach. Vielleicht weil er nicht dran dachte. Sie zwang sich, den Mund zu halten und ihn nicht weiter zu stören.
»Elías heiratete also Anna Bryndís und führte sie heim nach Gunnarsstaðir, wo sie bald Ísak zur Welt brachte. Der Hof florierte – es gab immer genug Heu, und auf dem Boden hier gedeihen die Schafe wohl besonders gut. Anna Bryndís war bekannt für die feine Wolle, die sie spinnen konnte. Sie hatten gute Pferde und ein paar Kühe, alles schien auf einem guten Weg. Elías’ Bruder Palli hingegen war immer schon ein Abenteurer gewesen, er hatte sich bei der amerikanischen Armee verpflichtet. Er flog im Zweiten Weltkrieg Kampfbomber. Sie hatten nicht geglaubt, dass sie ihn je wiedersehen würden. Eines Tages, als der Krieg aus war, stand Palli wieder vor der Tür von Gunnarsstaðir.« Langsam kaute er an seinem Brot herum und warf Krümel über die Klippe, wo Raubmöwen sie geschickt auffingen.
»Der alte Böðvar war gestorben, und Anna Bryndís lebte nun mit den beiden Brüdern hier. Das... war wohl nicht einfach.« Er schwieg vielsagend. Die Möwen umkreisten sie, gierig nach mehr Brot plärrend. Lies mochte keine Möwen.
»Du meinst...«
»Ja.« Jói zog eine schwer zu deutende Grimasse. »Elías machte die ganze Arbeit, und Palli tändelte mit Anna herum.« Damit starrte er wieder eine Weile hinab auf den Stein in der Jökulsá. Was für eine wilde Geschichte. Ein Eifersuchtsdrama? Männer, die vor lauter Schweigsamkeit die Zähne nicht auseinanderbekamen. Düsteres Hochlandwetter, Sturm im Tal, Sturm im Haus, Sturm in den Herzen. Abende mit Alkohol als Tischnachbar, Bruderzwist, sprechende Fäuste, und eine schöne Frau zwischen zwei Schlafkammern, nächtliche Schritte auf dem Linoleum, Türenknacken, Seufzer zwischen Federbetten, versalzenes Essen...
Sie biss sich auf die Lippen. Irgendwie kaum vorstellbar. Lies traute sich nicht, Neugier zu zeigen, weil sie nicht wusste, wie Jói zu solchen Geschichten stand. Da sprach er zum Glück weiter. »Es kam wohl, wie es kommen musste. Elías erwischte die beiden und stellte seinen Bruder zur Rede. So erzählt es jedenfalls der Kaufmann vom Hörensagen – außer den dreien ist ja niemand dabei gewesen. Und danach... Tja.« Er stützte den Arm aufs Knie und sah sie an. In seinen Augen schimmerte tiefe Nachdenklichkeit. »Danach beginnt die Schuldfrage.«
»Wie meinst du das?« Sie sah ihn lieber nicht zu lange an, schaute stattdessen das Kreuz unten auf dem Felsen an, obwohl ihr davon auch schwindelig wurde.
»Am Ende weiß man nur, dass sie verunglückt sind. Anna Bryndís, der kleine Ísak und Palli. Hier muss es gewesen sein. Hier sind sie abgestürzt, mit Elías’ bestem Pferd, einem Schimmel, wie es heißt. Über die Klippe in die Tiefe gestürzt. Und niemand weiß, warum.«
»Du meinst... ob es Elías war?«, flüsterte sie und sah ihn nun doch an, weil die Schlucht plötzlich beunruhigender war als seine ernsten Augen, die sie betrachteten. »Ob er sie...«
»Manche glauben, er hat sie dort hinuntergehetzt. Wütend, außer sich vor Eifersucht und Schmerz... Er hat Anna Bryndís sehr geliebt.«
Lies starrte auf den Boden. Die Bilder, die sie gesehen hatte, als der Kaufmann da gewesen war... Schneesturm, zwei Menschen und ein Pferd, unterwegs auf den Klippen, Absturz, Schreie …
»Furchtbar«, flüsterte sie, »wie furchtbar...«
»Ja, das ist es.«
Sie schwiegen lange.
»Der Einzige, der weiß, was wirklich geschehen ist, ist Elías«, sagte Lies irgendwann.
Elías. Der alte Mann, der verbittert und enttäuscht vom Leben auf seinem Hof hockte, bis er starb, der stur jede Hilfe und Einmischung ablehnte, bis sie ihm einfach eine Hilfe aufzwangen – sie, Lies.
»Man hat das Pferd dort unten gefunden. Und Kleiderbündel, Gepäckstücke. Von Anna einen Mantel, von Palli Schuhe. Der Fluss hatte sie mitgerissen, man hat sie nie gefunden.« Er räusperte sich. »Im darauffolgenden
Weitere Kostenlose Bücher