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Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Titel: Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Trodler
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Sommer ist Elías wohl hinabgestiegen und hat das Kreuz in den Felsen geritzt. Obwohl – obwohl der Fluss auch im Sommer hochgefährlich sein kann. Die Leute sahen das als Schuldeingeständnis...«
    Sörli hinter ihnen schaubte leise. Vielleicht kannte er die Wahrheit, doch er würde sie niemals preisgeben. Jói sah sich nach ihm um. »Jetzt darfst du dir denken, was du willst«, sagte er und drehte sich wieder zu Lies.
    »Hm«, brummte sie. »Hat er denn keine weiteren Verwandten? Niemanden?«
    Jói zuckte mit den Schultern. »Eigentlich ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass ein Isländer keine Familie hat. Irgendwie sind ja doch alle miteinander verwandt – aber Elías?« Er hob die Brauen. »Ich habe niemanden gefunden, der mit ihm verwandt ist. Der Kaufmann jedenfalls kennt niemanden – und der kennt ihn von allen am besten. Angeblich soll es da jemanden in den Westfjorden geben, aber niemand weiß etwas Genaues. Elías ist damals wohl für einige Jahre verschwunden. Außer Landes gegangen, auf einen Fischkutter, eine Ölplattform – niemand weiß, wo er gesteckt hat -, aber alle dachten, das sei der sichtbare Beweis für seine Schuld. Früher hat man die Verbrecher ins unwegsame Landesinnere gejagt. Irgendwann tauchte er wieder auf, mit allerhand Geld in der Tasche, und machte einfach weiter auf seinem Hof.«
    »Stand der denn noch?«, fragte Lies erstaunt.
    »Wer sollte ihn wegtragen?«, fragte Jói ironisch. »Hier in Island ist das so – man schliesst die Tür ab und geht, und alles bleibt, wie es ist. Kommt man eines Tages doch wieder zurück, stehen die Töpfe noch so da wie am letzten Tag. Praktisch, oder?«
    »Hm.« Sie fand die Vorstellung eher schauerlich.
    »Elías kaufte sich also ein paar Schafe zusammen, ein paar Pferde, und lebte, wie die Familie seit Jahrhunderten dort gelebt hat. Vor gut zehn Jahren haben sie ihn das letzte Mal in Vopnafjöður gesehen. Da kam er auf einem Pferd angeritten und wollte unbedingt Strom in sein Haus gelegt haben.«
    Jói grinste entschuldigend. »Das ist etwas Besonderes, so was behält man im Gedächtnis. Es gibt immer noch Höfe, wo man sich weiterhin anders behilft. Petroleum, Kerzen oder ein Dieselaggregat. Elías hatte ja Geld aus dem Ausland mitgebracht, viel Geld, deswegen redeten die Leute. Er wollte Strom, den Öltank und eine Gefriertruhe.«
    »Warum ist eine Gefriertruhe etwas Besonderes?«
    »Naja.« Jói strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Eine Gefriertruhe macht das Leben schon einfacher. Und außerdem sagt der Kaufmann, dass Elías es hasst, zu schlachten. Jeder isländische Bauer kann schlachten – Elías will es nicht.«
    »Vielleicht kann er kein Blut sehen?« Oder vielleicht hatte der Alte unangenehme Bilder vor Augen, wenn er ein Tier tötete... Bilder, die er vergessen wollte und nicht konnte...
    »Hmhm. Jedenfalls weigert er sich zu schlachten, und so muss Ari alle paar Monate kommen und seine Vorräte auffüllen. Deswegen braucht er eine Gefriertruhe.«
    Er seufzte und starrte wieder hinunter in den Fluss. Lies fand, dass er gerade sehr viel erzählt hatte – für seine Verhältnisse -, und es waren merkwürdige Dinge dabei gewesen. Dinge, die ihr kalte Schauder über den Rücken jagten. Trotzdem hätte sie ihm gerne weiter zugehört, sie mochte seine melodische Stimme und wie seltsam er manche deutschen Wörter aussprach. Überhaupt mochte sie es, wenn er neben ihr saß – mehr als alles andere mochte sie das …
    Lies versuchte sich Gunnarsstaðir ohne Strom vorzustellen. Ohne Licht, ohne den Elektroherd. Ohne die Brotmaschine, und ohne die Kühltruhe. Ohne Steckdose für das Radio... Ohne Licht. So wie im Stall. Gott, Allmächtiger.
    »Kennst du Leute, die so leben?«
    Er schüttelte den Kopf. »Elías ist der einzige Einsiedler, den ich kenne. Vielleicht gibt es oben in den Westfjorden noch Leute, die so leben. Manche Höfe liegen ja noch einsamer als Gunnarsstaðir. Sie bauten ihm also Strommasten von der Straße bis zum Hof. Die Alten behaupten, er habe sich den Strom teuer erkauft, danach sei er ruiniert gewesen. Er bekam seinen Strom, und den Ölofen mitsamt dem Tank, der einmal im Jahr aufgefüllt wird. Ari meint, dass er vielleicht doch auf einer Ölbohrinsel gearbeitet hat und dass das die Bezahlung ist…« Er lachte. »Niemand weiß es. Und niemand wird es je erfahren. Elías jedenfalls wird es nicht erzählen.«
    Elías würde überhaupt nichts erzählen, da war sich Lies sicher. Die Geschichte klang spannend, und

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