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Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Titel: Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Trodler
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fragte er ›Ja?‹.
    »Dann komm.« Ganz offenbar hatte Jói Magnússon für heute genug geredet, denn er nahm das Seil in die Hand und führte Lies auf dem Pferd nach Gunnarsstaðir, ohne ein weiteres Wort zu sprechen. Der Wind zerzauste dort oben sanft ihr Haar, Vögel flogen dicht über ihrem Kopf, und die Gipfel der braunen Berge waren viel näher als sonst. Sie konnte weit schauen, die Jökulsá zeigte ihr großspurig, wo sie ihren Weg hinmachte und wo das Meer zu vermuten war. Es duftete dort oben anders – frischer, kühler. Es duftete nach Kräutern und junger Heide, und sie meinte, den Sommer sehen zu können. Hellblau lag er über dem gebirgigen Horizont und ließ die schneebedeckten Berge in der Ferne glänzen. Lies musste lachen. Noch vor ein paar Stunden war sie im Schneegestöber beinahe erfroren und im nachfolgenden Regen klatschnass geworden. Jetzt hockte sie auf einem Pferd, und die Sonne wärmte ihren Kopf.
    Island konnte wirklich merkwürdig sein.
     
    Am Haus hielt Jói an.
    »Na, ging doch ganz leicht«, kommentierte er Lies’ ersten Ritt, tätschelte den Hals des weißen Pferdes – und ging ins Haus, wohl um noch mal nach Elías zu schauen. Lies blieb fassungslos im Sattel sitzen. Wie sollte sie hier herunterkommen? Wenn das Pferd nun wegsprang? Ihr in den Rücken sprang? Umfiel?
    Sörli schnaubte leise. Er würde nicht wegspringen. Oder gar umfallen. Wie kam sie nur auf solche dummen Gedanken? Er stand doch einfach da. Er war noch nie weggesprungen. Und weil das so sicher klang, beugte sie sich vor, in Richtung seiner prachtvollen Mähne, griff mit den Händen in die Pracht und schwang das linke Bein über die Kruppe. Langsam glitt sie an Sörlis Seite herunter. Die Welt wurde wieder so wie vorher – hoch, düster und bedrohlich, das Rauschen der Jökulsá verschwand hinter den Klippen, und der Duft der Heide verpuffte. Hier unten war der Alltag – arbeitsreich, miefig und einsam.
    Einsam. Wieder stahl sich ihre Hand in die weiße Mähne. Wie konnte man einsam sein, wenn man so etwas fühlen durfte? Vorsichtig hielt sie ihre Nase in die Haare und sog den Duft von Pferd und feuchtem Fell ein. Sie fühlte sich wie ein Kind und schloss die Augen, während ihre Finger im plüschig weichen Fell unter der Mähne versanken und genossen, dass die Wärme bis in ihre Knochen drang... Das Pferd wartete geduldig, bis sie mit ihrer Kundschaftertour durch sein Haarkleid fertig war. Vor Jói hätte sie sich das niemals getraut.
    Sie nahm den Halfterstrick und führte es zum Stall. Dort blieb Sörli stehen.
    »Na komm«, sagte Lies und zog.« Das Pferd stemmte sich gegen den Zug. »Komm, wir gehen in den warmen Stall zurück.« Er machte sogar einen Schritt zurück und schnaubte wieder, diesmal ärgerlich. Sie zog, er zog auch, aber in die andere Richtung, und er war stärker. Er stampfte mit dem Huf auf und wurde wieder zu jenem feuerspeienden Wesen, das er an dem Tag, als sie sich kennenlernten, gewesen war. Lies’ Hände begannen zu zittern. Sie hatte Angst vor ihm. Seine Mähne, eben noch ein harmloses weiches Kissen, schäumte, und wie zur Unterstützung fuhr der Wind hinein und ließ sie hochfliegen. Er hob auch den Schopf an, und Lies konnte die Augen des Pferdes sehen. Tiefschwarz, mit einem weißen Rand und langen hellen Wimpern, und alles Sanfte, was sie je dort gesehen hatte, war verschwunden.
    Niemals würde das Pferd wieder in diesen Stall zurückgehen. Niemals. Lies war ratlos.
    Mit bebenden Händen nahm sie den Sattel von ihm herunter und legte ihn ins Gras.
    »Komm«, versuchte sie es noch mal, »komm doch.« Der Strick hing gespannt zwischen ihnen.«Na komm.« Lies zog erneut, da stieg er leicht auf die Hinterbeine, riss ihr mit einer Seitwärtsbewegung das Seil aus der Hand, landete wieder auf den Vorderbeinen und trottete an ihr vorbei auf die Schafweide.
    »Heee!« Empört lief Lies hinter ihm her, doch der Schimmel wusste sich so zu bewegen, dass sie ihn nicht zu fassen bekam. Eine Rechtswendung, eine Linksdrehung, ein Galoppsprung – immer wich er vor ihr aus, ohne sich aufzuregen oder gar böse zu wirken. Lies lief, bis sie außer Atem war – und die Schafweide war verdammt groß. Dann blieb sie stehen, mit entmutigt herabhängenden Armen.
    Sörli drehte sich zu ihr um. Sein schwarzes Auge blinzelte freundlich durch die weiße Mähne hindurch. Was willst du , schien er zu fragen, lass mich doch einfach hier draußen .
    Lies runzelte die Stirn. Hatte sie das wirklich gerade

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