Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
gehörnte Köpfe aus dem grauen Boden, und körperlose Augen verfolgten ihre Schritte. Der Fluss rauschte unverändert sein Lied von der Ewigkeit, und nichts deutete darauf hin, dass oben am Gletscher Schnee schmelzen sollte. Der Sommer, blau und duftend angekündigt, war in weite Ferne gerückt, nachdem der Frühling ja schon ausgefallen war. Seltsames Land, man konnte sich auf gar nichts verlassen …
Lies ertappte sich dabei, mehrmals täglich die Straße zu beobachten, ob nicht doch ein Auto heraufkam. Es kam keines, nicht mal eine Staubwolke war zu sehen, nichts, außer einem ausgebüchsten Schaf, das am Zaun entlangschlenderte, sich vom Heu der anderen Schafe herauszupfte, sich aber nicht einfangen ließ. Irgendwann resignierte sie und ließ das Schaf seiner Wege gehen.
Niemand verirrte sich in das Tal von Gunnarsstaðir.
Sie ertappte sich auch dabei, wenn sie gegen drei Uhr in der Früh den Stall verließ, nicht gleich zum Haus zurückzulaufen, sondern sehnsüchtig nach blauen Himmelsstücken Ausschau zu halten, denn es gab ja inzwischen, Mitte Mai, wie ihr Kalender verriet, keine Nacht mehr, die das Blau verstecken konnte. In Island verschwand die Nacht mit dem Frühling, der Sommer musste ja also irgendwann kommen, auch wenn die Vegetation auf sich warten ließ. Die Nacht fand nur noch gegen Mitternacht für zwei Dämmerstunden lang statt. Dann senkten die Berge ringsum ihr faltiges Haupt, die Vögel schwiegen, und die Natur schloss die Augen für ein kurzes Nickerchen. Kurz nach zwei Uhr schlug dann die Sonne ihre Augen auf und weckte einen nach dem anderen. Der Tag war also immer um sie herum – wenn sie den Stall betrat, wenn sie ihn verließ, wenn sie ins Bett ging und wenn sie aufstand, wenn sie aus dem Fenster sah – immer war es Tag und hell, und Lies war viel zu müde, nach kurzen Ruhepausen mit viel zu wenig Schlaf, weil eigentlich nie Zeit zum Schlafen war.
Beim Aufstehen fragte sie sich verzweifelt gähnend, warum zum Teufel sie das eigentlich tat, und jeden Abend kam ihr der Gedanke, wie friedlich es mitunter doch am Tag gewesen war und wie gut diese neue Existenz zwischen fröhlichen Lämmern und mürrischem Elías trotzdem funktionierte. Das eine hob das andere auf, irgendwie. Im Büro hatte es nicht funktioniert, weil es zu Packbier kein Gegengewicht gegeben hatte. Alles war unerfreulich gewesen, das morgendliche Aufstehen, der laute Verkehr, das Gedrängel in der U-Bahn, verschlafene Kollegen, schlechtgelaunte Amtsboten, die einem den Aktenwagen in die Haxen fuhren ohne sich zu entschuldigen, die ständig geschlossene Kantine oder nur noch Menü 2 im Angebot, kein Klopapier – und Arnold Packbier. Abends dann der leere Kühlschrank und das schlechte Fernsehprogramm. Von Thomas mal ganz zu schweigen.
Hier war das anders. Sie staunte, wie viel so ein paar Lämmer ausmachten, wenn sie müde war oder sich einsam fühlte. Ihre neugierig-unschuldigen Gesichter mit den breiten Mäulern, die stets zu lachen schienen, heiterten sie auf. Genauso war es auch, wenn sie ihnen beim Herumhüpfen zusah oder auch nur beim Schlafen, wenn sie wie kleine Stofftiere zusammengerollt in der Ecke lagen, den Kopf auf die Vorderläufe gelegt und sich vom anstrengenden Leben ausruhten; wenn sie mit prallem Bäuchlein unter Mutters Bauch wieder auftauchten, Milchreste am Maul, und sich einen Platz zum Schlafen suchten; oder wenn sie kurz nach der Geburt das erste Meckern versuchten und der zarte, kleine Leib dabei bebte. Die energischen Köpfchen, die schon in den ersten Lebensstunden wussten, wohin sie wollten – und wohin nicht -, und anhand derer man sich vorstellen konnte, wie unerfreulich sich der Kopf eines wütenden Zuchtbockes anfühlen würde. Auch wenn der Zuchtbock die meiste Zeit recht freundlich und dösend in seiner Box herumhing, die kleinen Böckchen konnten schon mit wenigen Tagen stoßen und trugen das winzige Gehörn, welches sich wie durch ein Wunder aus dem Kopf schraubte, mit Stolz. Das schwarze Böckchen hinten in der letzten Box sah damit aus wie ein freches Teufelchen.
Die Schafe beschäftigten sie rund um die Uhr. Sie hatte gelernt, dass man weniger Lämmer verlor, wenn man bei der Geburt dabeiblieb und Hand anlegte, wo es nötig war. So verbrachte sie mehr Zeit im Stall mit Wachen, als vielleicht nötig gewesen wäre, doch es schulte ihr Auge. Sie sah und erkannte, was sie voher nicht gesehen hatte, und sie lernte immer besser, Schafe voneinander zu unterscheiden, obwohl die Köpfe,
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