Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
sie fand es traurig, dass sie hier endete. Elías würde nichts erzählen.
Jói gähnte und strubbelte nachdenklich in seinen Haaren. Lies sah weg, er war einfach atemberaubend, kaum zum Aushalten. Nie hätte sie gedacht, dass ihr so was mal passieren könnte, und nach dem Desaster mit Thomas schon gar nicht. Gunnarsstaðir war so verflucht einsam …
»Niemand wird es je erfahren«, sagte sie leise.
Von der Seite her sah er sie an. »Würdest du es gerne erfahren?«
»Du nicht?«
Seine blauen Augen blickten sanft und etwas schläfrig drein. »Nun – nein. Nicht wirklich. Jeder hat sein Geheimnis. Hast du keins?« Hatte sie eins? Lies schüttelte den Kopf. Da lachte er freundlich und sagte nicht, dass er ihr nicht glaubte.
Die Sonne schien sich vorgenommen zu haben, an diesem Tag, der so dramatisch begonnen hatte und so friedlich endete, den Sommer einzuläuten, nachdem sie den Frühling ja quasi vergessen hatte. Sie schob die Wolken beiseite und trocknete die Nässe, die in der Luft lag, und bald waren auch die letzten Schneespuren vom Vormittag geschmolzen. Glasklar wurde die Luft. Gegenüber, auf der anderen Seite der Jökulsá, hoben sich die Wiesen nun exakt von den Berghängen ab und versprachen, ab jetzt zu wachsen, um gutes Futter für die Schafe zu werden. Farben schieden sich, aus dem ewig verwaschenen Graubraun kamen Konturen zum Vorschein, und das Tal bekam ein Gesicht. Der Himmel seufzte erleichtert. Sein Blau strahlte so heftig, dass es in den Augen wehtat und sie lieber auf Jóis Hände im nassen Gras neben sich schaute und wie sie Löcher ins Moos bohrten und Hälmchen abzupften.
Was für ein Tag …
»So, jetzt muss ich los.« Jói stand auf und packte den Beutel zusammen. »War eigentlich auf dem Weg nach Sey ðisfjöður zu’nem Kalb.«
Lies sprang hoch, Bedauern im Herzen, dass er schon wieder fahren wollte. Aber so war es nun mal – Besuch war Besuch. Tatsächlich war es so, dass sie beim Finanzamt froh gewesen war, wenn sich die Tür hinter dem Besucher wieder geschlossen hatte – hier hielt sie ihren Besuch am liebsten fest. So konnten sich Dinge ändern. Sie wusste kaum noch, wie man Finanzamt schreibt. Den Geruch ihres Büros hatte sie vergessen. Er war ja mit den Plastikfolien verbrannt. Sie grinste leise vor sich hin.
»Willst du reiten?«
»Wie bitte?« Sie klopfte Erdkrümel von der Jeans und glaubte nicht richtig gehört zu haben.
»Na – reiten.« Er lachte – so unwiderstehlich und jungenhaft... »Bist du noch nie?«
Heftig schüttelte sie den Kopf. »Nö. Ich mag keine Pferde.«
»Auch diesen hier nicht?« Jói streckte die Hand nach dem weißen Pferd aus, das freundlich wartend neben ihm stand. »Er mag dich.«
»Quatsch.«
»Er mag dich, das hat er mir gesagt. Du gibst ihm Futter. Tiere mögen den, der sie füttert. Und du kümmerst dich um ihn. Das hat er mir auch gesagt.« Er zwinkerte ihr zu. »Komm, steig auf, ich zeig dir, wie man’s macht.«
Wieder schüttelte sie den Kopf. »N-nein. Wirklich nicht.«
Sein Gesicht wurde ernst. Lies, vielleicht brauchst du’s eines Tages. Dann ist es gut, wenn du weißt, wie es geht.«
Sie zögerte. Das Pferd stand einfach da, mit eingeknicktem Hinterbein, ließ sich den Schopf vom Wind verwirbeln – und wartete.
»N-nein. Ich weiß nicht. Nein.«
Jói wartete auch. Es gab kein Entkommen.
Zögernd trat sie näher. Legte die Hand auf den Sattel, setzte den Fuß in den Bügel, als ob sie seit Jahren nichts anderes gemacht hätte. Das Pferd stand ruhig und wartete. Kurz fühlte sie Jóis Hände an ihrer Hüfte, es war wie fliegen, als er sie hob, doch bevor sie auf den Geschmack kommen konnte – zu fliegen und seine Hände an sich zu spüren -, saß sie auch schon im Sattel und mindestens zwei Meter über dem Boden auf einem schwankenden Grat. Zwei Meter nur? Ach was, mindestens drei Meter! Eine falsche Bewegung und sie würde herunterkippen. Sie streckte die Hand aus und hielt sich hilfesuchend an Jóis Arm fest. Jói schnallte gerade die Steigbügel auf passende Länge und sah erstaunt hoch. Lies zog ihre Hand zurück. Nur keine Blöße geben, was würde er sonst denken. Er dachte nicht, er lächelte einfach nur, und Lies wurde rot.
Es gab keine Ausflucht. Dennoch – ganz sicher war dieses schmale Pferdchen nicht zum Reiten geeignet. Wie kam er nur auf so eine Idee. Das Pferd machte einen Schritt zur Seite. Lies schluckte und spannte die Pobacken an. Sörlis Kopf ging hoch, die Ohren wanderten nach hinten, als
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