Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
euch ein feines Schneehuhn.« Damit polterte er zur Küche hinaus, und Lies hörte ihn in der Diele kramen.
»Schneehuhn schießen«, brummte sie. »Sind wir auf der Kirmes, oder was? Schneehuhn schießen. In der Brutzeit, du hast sie wohl nicht alle. Schneehuhn schießen.« Unwillig zog sie die Nase hoch.
Es polterte wieder, gleich darauf pochte er breit grinsend mit einem Gewehr in der Hand von außen gegen das Küchenfenster. »Komm, Mädchen.« Er meinte das ernst! Nun, einerseits war es eine Schweinerei, im Juni ein Schneehuhn zu schießen, andererseits war Lies froh über jede Art von Ablenkung, auch wenn sie bedeutete, dass die Arbeit liegen blieb... Ach, egal. Die Jacke in der Hand rannte sie zur Tür hinaus und hinter Ari her.
»Schneehühner sind schüchtern.«
Das war Aris Einführung in die Schneehuhnjagd. Danach lauerten sie nur noch schweigend. Erst hinter den Felsen unterhalb des Stalles, dann in einer Senke oberhalb der Klippen, wo es intensiv nach wildem Thymian roch. Dicht beieinander lagen sie dort, während über ihren Köpfen der isländische Frühsommerwind flüsterte, dass es bald richtig warm werden würde, für ganz kurze Zeit nur – aber so warm, dass die Wiesen richtig grün werden würden und die Schafe im Hochland richtig fett und dass man richtig Sonnenbrand bekommen würde und gebleichtes Haar …
»Da ist eins…«, flüsterte Ari und legte an. Es raschelte hinter einem Strauch, doch er schoss nicht. Ein anderes Tier huschte aus dem Versteck – ein Fuchs. »Schau…«, raunte der Kaufmann. Mit geducktem Kopf schnürte das graubraune Tier um die Felsen und war im nächsten Augenblick auch schon verschwunden. »Ist er schneller gewesen …«
Sie kletterten aus der Senke und suchten weiter, denn Ari schien die Verstecke der Vögel auf Gunnarsstaðir gut zu kennen. In ihrem nächsten Felsversteck hatten sie mehr Glück – während Lies sich an einer aufgeblühten Glockenblume erfreute, knallte neben ihr das Gewehr. Der Schuss zerriss brutal den vermeintlichen Frieden. Es gackerte, flatterte, dann ein Juchzer, und der Kaufmann kletterte ächzend aus dem Versteck und stürzte sich auf seine Beute.
»Was passiert, wenn sie dich erwischen? Ist doch verboten, so was«, fragte sie skeptisch.
»Ach – bis sie kommen, ist das Huhn längst in meinem Bauch«, grinste er. »Du wirst nie wieder was anderes essen wollen.« Breitbeinig kam er näher. »Schau – das brät man mit Speck und übergießt es mit Milch... Du wirst nie wieder ein normales Hühnchen essen wollen, Mädchen.«
Das Huhn war nicht viel – ein kleines, dürres Vögelchen mit braunen Federn, das im Winter ein weißes Federkleid trug und sich zur Tarnung in den Schnee eingrub. Ein paar weiße Federn waren sogar noch übrig. Lies schluckte, als das Huhn so direkt vor ihr baumelte und Blut heraustropfte. Sie hatte es nicht so mit frisch getöteten Tieren...
»Ach«, sagte der Kaufmann beschwichtigend. » Þetta kemur . Du wirst schon sehen. Wirst schon sehen.«
Damit setzte er sich auf den Felsen und begann, sein Huhn zu rupfen. Die Sonne schob die Wolken fort und wärmte ihn bei seiner Arbeit.
Träge schaute Lies den Federn hinterher. Ihre Hand lag tief im Kräuterboden vergraben – Engelwurz, Glockenblume, Heidekraut, es duftete so vielversprechend nach Sommer…
»Woher kennst du ihn?«
»Wen? Jói?«
»Ähm – nee – also -«
»Jói kenn ich, seit er klein war.« Das bärtige Gesicht lächelte freundlich. »Ein lieber Junge.« Das Huhn sank auf die Knie, und er starrte vor sich hin. »Weißt du, sein Vater arbeitete auf einem Walfangschiff. In einer Sturmnacht sank das Schiff – es gab keinen Überlebenden. Die Mutter hat sich totgesoffen vor Kummer. Er – er wohnte dann mal hier, mal dort, auch mal bei mir. Ein paar Monate hat er hier auf Gunnarsstaðir gelebt. Eines Tages nahm er das Schiff und ging weg von Island.«
»Er ist in Deutschland gewesen, nicht wahr?«, fragte sie begierig weiter.
»Er ist in Deutschland gewesen«, bestätigte der Kaufmann und drehte sich um. Das Huhn lag immer noch auf seinem Knie. »Hat dort vieles gemacht. Im Schlachthof gearbeitet. Mit Pferden gearbeitet. Hufe gemacht, beschlagen. Junge Pferde ausgebildet – so was halt. Was man so macht, wenn man aus Island kommt. Gibt ja viele Pferde von der Insel dort unten, so sagt man.« Er lächelte. »Deutsche Frauen mögen die isländischen Pferde. Die isländischen Männer mögen sie auch. Ich versteh nicht warum, wo doch
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